Text & Bild

Was passiert hier? Berlin ist auch ein Viertel Lateinamerikas. Texte, Bilder und Sinngewebe über aus/in und zum Barrio|Bairro kommen hier zu Wort.

Manifesto do teatro latinofuturista

André Felipe
Das Latinofuturistische Theater ist keine Bewegung, sondern ein Geflecht lateinamerikanischer Praktiken und Kenntnisse, die überzeitlich miteinander verbunden sind. Ein direktes Gespräch zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit mit all seinen Mäandern; alles gleichzeitig, ohne Hierarchie. Das Latinofuturistische Theater schlägt eine Zeit vor, die nicht in Uhren, Kalender oder Terminpläne passt und die…

Barrio I Bairro Berlin

Der Blick auf Lateinamerika ist nach wie vor stark durch koloniale Stereotype und exotisierende Narrative geprägt, und die Literatur des Magischen Realismus prägte zusätzlich das Bild eines entrückten, ländlichen Lateinamerikas. Die zeitgenössische lateinamerikanische Literatur widersetzt sich diesen Narrativen. Mit einer großen stilistischen Vielfalt entziehen sich die Autor:innen jeder Kategorisierung.…

En Chile soy la escritora que vive en Berlín

Patricia Cerda
En Chile soy la escritora que vive en Berlín y eso me otorga cierta pátina cosmopolita, por no decir misteriosa. Una escritora que llegó a vivir a esta ciudad en 1986, cuando aún estaba dividida. La noche en que se abrió la puerta de Brandenburgo yo iba allí, colada entre la multitud, caminando de la mano de la historia, preguntándome: ¿qué hago yo aquí, si yo vengo de Concepción? Tenía doce años cuando…

எங்கே? // En˙ gē? // Where?

Avrina Prabala-Joslin
எங்கே? -         அவ்ரீனா    நேசத்தின் மடியில்  உடல் மடிந்து  கரங்கள் நீண்டு  இரு கண்களும்  ஒரே இடத்தை  நோக்கி பார்க்கும் ஏக்கமில்லா ஐக்கியத்தை நீ விரும்பவில்லையா?   அதனால் தான் வெகு தூரம் சென்று விலகி நின்றாயா?  வேற்று மொழியில்  வேற்றுமையின் வார்த்தைகளை  கேட்க சென்றாயா?  புத்தகத்தில் பக்கங்கள் பத்தாது எனினும் கற்ப்பனையின் மண் வேறு. பனி விழுந்து பூக்கள் சாகும் இடத்தில்  பாதம் நட முயன்றாயா?   அடையாள…

A,B,C,D

Antonio Ungar
Meine Freundin A ist aus Venezuela. 2013 kam sie nach Berlin, im gleichen Jahr, als Maduro Präsident wurde. Ihr Mann D, den sie vor neun Jahren kennengelernt hat, ist Deutscher. Aus Ostberlin. Bedächtig, großgewachsen, schüchtern verwaltet er die Buchhandlung eines sehr reichen Bayern. Sie haben zwei Töchter, neun und elf Jahre alt. Was D verdient plus As Einkommen als Architektin reicht für eine riesige…

Berliner Bahnhöfe

Juan Carlos Méndez
Von Kälte durchflutet, von Schnee umhüllt und ab vier Uhr nachmittags eingenachtet verwenden Berliner lateinamerikanische Romane vor dem Mauerfall nicht nur die Jahreszeiten, sondern gerade auch Bahnhöfe als ganz konkrete Symbole für die Grenze, die Schwelle, die Mauer, die zwei staatliche Ordnungsgebilde trennt.Eine innere Spannung (zwischen Ost und West) und eine äußere (zu Paris) machten Berlin zum…

Dann ist wieder Sonne

Ralph Tharayil
Er spricht von Fallen. Er spricht von Fallen, die er aufstellt, spricht von Fledermäusen und dem Gehör der Tiere im Dunkeln. Er spricht vom frühen Schlaf und von den Nachrichten, die er von seinem Anwesen aus an Bekannte in Europa verschickt, von den Nachrichten auf WhatsApp und jenen auf YouTube. Er spricht von den Schwärmen und ihrem Flügelschlag, wie er ihren Schall nicht sieht. Er sieht den Kot, den…

Den Name läuten

Florencia del Campo
Es gab zwei Reihen und achtzehn Klingeln pro Reihe. Ein hohes, schmales, längliches Klingelschild. Kupferfarben, wie ein Armband für den Strand. Wie ein Halsband, wie Ohrringe. Zwei Reihen von Nachnamen und daneben der Klingelknopf, wie eine Ibuprofen. Eine Paracetamol. Wie die runden oder ovalen Dinger, die ich aus den Blisterpackungen drücke und runterschlucken kann. Eine Klingel wie ein Schmerzmittel.…

Kolonialer Scheiß und der Rest der Welt

Danú Gontijo, Bárbara Santos Suelen Calonga
Die koloniale Scheiße Der Kolonialismus war ein riesengroßer Scheiß. Es hat nicht gereicht, einen Riesenhaufen auf Europa zu setzen, auch an anderen Orten der Welt musste nach allen Regeln der Kunst hingeschissen werden. Im Geiste einer Abenteurer-Entdecker-Erzählung, die bis heute fortbesteht, wurden Gebiete erobert und Völker unterjocht, ganze Ethnien ausgelöscht, Gemeinschaften auseinandergerissen,…

Der letzte Montano

J. A. Menéndez-Conde
Es gibt nichts Schwierigeres, als ein Zuhause zu verlassen, in dem man gelitten hat. „Ich hätte dich doch zum Flughafen fahren können“, sagt mein Vater von der Tür aus. Dabei hat er gar kein Auto. Er hat es verkauft, um seine Schulden zu bezahlen. Er guckt an mir vorbei auf das wartende Taxi und wiederholt, dass er mich wirklich hätte fahren können. Bevor ich den Rucksack schultere, umarmen wir uns. Ich…

Die Tiere

Bruno Renato
In den Wendungen der Alten, im flüssigen Gerücht ihrer Münder sind die Stadt, die Nägel [und diese trockenen Viecher], die über sie wachen nur die Nahrung, der schwarze Schlamm der zu unseren Füßen wartet In ihren Wendungen liegen das andere Ufer und der Himmel eines Bildes; die Ampeln, die verpflanzten Herden tausende moosgeplagte Köpfe der Verdammten dieses Südens Und so fängt alles an Mädchen schlägt…

Die Zukunft

María Cecilia Barbetta
Wie das Leben so spielt, war ich gerade bei meiner Familie in Argentinien zu Besuch, als mir die vielversprechenden Ankündigungstexte auffielen. Ausgerechnet eine Woche, nachdem ich gelandet war, sollte an der Universität von Buenos Aires ein vor fünf Jahren als Großprojekt konzipiertes und mehrfach verschobenes Symposium über die Causa der Phantastik nun doch noch stattfinden. Der ungewohnte Gebrauch des…

„Früher oder später können wir alle am kulturellen Extraktivismus beteiligt sein“

  Cristina, wie war dein Bild von Berlin, bevor du hier gelebt hast?  Ich war schon vorher oft zu Besuch in Berlin. Deshalb ist mein Bild von Berlin, bevor ich hier gelebt habe, im Laufe meiner zahlreichen Besuche entstanden. Aber eigentlich war es das Produkt von Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin und dessen Fortsetzung In weiter Ferne, so nah! Dazu kam das Interesse meines Vaters für alles, was…

Huaco Retrato

Gabriela Wiener
Das Seltsamste daran, allein hier in Paris zu sein, im Saal eines ethnografischen Museums, fast unter dem Eiffelturm, ist der Gedanke, dass all diese Figuren, die mir ähnlich sehen, dem kulturellen Erbe meines Landes von einem Mann entrissen wurden, dessen Nachnamen ich trage. In der Vitrine verschmilzt mein Spiegelbild mit den Konturen dieser Figuren, die braune Haut haben, Augen wie kleine glänzende…
Manifesto do teatro latinofuturista
André Felipe
12.09.24

Am 28. August 2020 überquerte ein Kojote die Avenida de los Insurgentes im leeren Zentrum von Mexiko-Stadt. Ein Frauenpaar erreichte den Gipfel des Cerro de los Siete Colores in der argentinischen Provinz Jujuy. Ein Lieferfahrer einer Bestell-App sprang in São Paulo von seinem Motorrad in den Fluss Tietê. Ein 11-jähriger Junge erwachte in Guayaquil nach 11 Monaten aus dem Koma. Der Strand von Castillo Blanco in der kolumbianischen Karibik war im Morgengrauen mit toten Fischen übersät. Ein 13-jähriges Mädchen nahm im Badezimmer ihres Hauses in Guatemala-Stadt eine Abtreibung vor. Eine bolivianische Autorin stellte in Santa Cruz de la Sierra ihren ersten andinen Gothic-Roman vor. Eine Gruppe von Greis:innen präsentierte in Colonia del Sacramento eine Zoom-Fassung von Das Leben ein Traum. Am selben Tag, dem 28. August 2020, wurde während eines virtuellen Treffens das Manifest des Latinofuturistischen Theaters verfasst.

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Laura Haber und Douglas Pompeu

»Postais para o fim do mundo. Temporalidades latino-americanas na dramaturgia contemporânea 2011-2021« (São Paulo, 2021)

Das Latinofuturistische Theater ist keine Bewegung, sondern ein Geflecht lateinamerikanischer Praktiken und Kenntnisse, die überzeitlich miteinander verbunden sind. Ein direktes Gespräch zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit mit all seinen Mäandern; alles gleichzeitig, ohne Hierarchie.

Das Latinofuturistische Theater schlägt eine Zeit vor, die nicht in Uhren, Kalender oder Terminpläne passt und die nicht geteilt, geordnet oder eingekästelt werden kann.

Das Latinofuturistische Theater ist nicht auf eine glorreiche Zukunft ausgerichtet, die auf maschinellem Fortschritt und Beschleunigung beruht, sondern ganz im Gegenteil, es schlägt eine zeitliche Neuorientierung vor, die die Erinnerung an die Zukunft ebenso berücksichtigt wie die Vision von der Vergangenheit und die Verzerrung der Gegenwart.

Das Latinofuturistische Theater versteht, dass zeitliche Logiken auch Machtinstrumente sind, und verkompliziert daher eine hegemoniale Chronopolitik, die hauptsächlich auf Linearität und der über allen Lebewesen und Dingen stehenden Fortschrittsidee beruht.

Das Latinofuturistische Theater schlägt einen Bruch mit hegemonialen Zeitlichkeiten vor, die lateinamerikanischen Zukunftsprojektionen Grenzen auferlegen. Es rettet und erfindet vielfältige und abweichende zeitliche Logiken.

Das Latinofuturistische Theater stellt infrage, Gegenwart und Vergänglichkeit als etwas zu verstehen, was einfach verschwindet. Es betont dagegen Transformation, Ballast, Dauer, Beständigkeit.

Das Latinofuturistische Theater, Bruder des Afrofuturismus, beteiligt sich an der Kollektivarbeit, sich eine Zukunft für diejenigen vorzustellen, denen Zukunft bisher verwehrt worden ist. Es beteiligt sich an der Schaffung spekulativer Fiktionen als Übung, die Gegenwart zu verfremden und die kolonialen Archive ins Bewusstsein zu holen.

Das Latinofuturistische Theater ist anachronistisch und imaginiert eine heterogene Zeit aus vielfachen zeitlichen Schichten und vielfältigen Auftritten.

Das Latinofuturistische Theater verschiebt die Zentralität des Menschen und strebt eine feministische, queere, tuntige, schwuchtelige, sapphische, transvestitische, cyborgianische, monströse, pflanzliche, mineralische, pilzige, bakterielle, nicht-organische... Zukunft an.

Das Latinofuturistische Theater beherbergt Geschöpfe wie das Gespenst der Zukunft, den Engel der Geschichte, den ins Vergangene springenden Tiger, die gefiederte Schlange, den Alligator, der sich in den eigenen Schwanz beißt, die langsame Schnirkelschnecke, den wandernden Wald, den Quantenkrebs und natürlich die paläolithische Schildkröte.

Das Latinofuturistische Theater spricht auch Guarani, Náhuatl, Aymara, Quéchua, Mapuche, Yanomami, Yorubá, Pajubá und so viele andere Sprachen. Und es hält sich für so viele andere Namen.

Das Latinofuturistische Theater interessiert sich für kreisförmige Ruinen, Gärten mit verzweigten Wegen, Kleinstlabyrinthe, babylonische Bibliotheken, Pyramiden in Pyramiden, Höhleninschriften, Graffiti auf Autobahnen, unentzifferbare Kodizes, verscharrte Knochen in Massengräbern, Bruchstücke von Asteroiden, mehr als hunderttausend Jahre alte Fossilien, Technofossilien, Elektronikschrott, intakte Objekte in ausgebrannten Museen, in Löchern versteckte vom Aussterben bedrohte Tiere, im Kreis erzählte Geschichten, Bergbaurückstände, Kreistänze und von Synthesizern erzeugte Musik.

Das Latinofuturistische Theater interessiert sich für ein quantisches, pandemisches, katastrophales, mutiertes, monströses, radioaktives Szenario.

Barrio I Bairro Berlin
10.09.24

Der Blick auf Lateinamerika ist nach wie vor stark durch koloniale Stereotype und exotisierende Narrative geprägt, und die Literatur des Magischen Realismus prägte zusätzlich das Bild eines entrückten, ländlichen Lateinamerikas. Die zeitgenössische lateinamerikanische Literatur widersetzt sich diesen Narrativen. Mit einer großen stilistischen Vielfalt entziehen sich die Autor:innen jeder Kategorisierung. Sie mischen Genres wie Science-Fiction, Thriller, Fantasy, Memoria und utopische Literatur und entwickeln neue Textformen wie die „microrrelato“, die Mikroerzählung und Dokumentarpoesie. Jenseits der verklärten Utopien der Literatur des Magischen Realismus, der die Folgen des Kolonialismus und die gesellschaftlichen und politischen Realitäten der modernen lateinamerikanischen Gesellschaften ausblendet, arbeitet die zeitgenössische Literatur koloniale und postkoloniale Verwerfungen auf und denkt Lateinamerika dekolonial. 

En Chile soy la escritora que vive en Berlín
Patricia Cerda
07.09.24

En Chile soy la escritora que vive en Berlín y eso me otorga cierta pátina cosmopolita, por no decir misteriosa. Una escritora que llegó a vivir a esta ciudad en 1986, cuando aún estaba dividida. La noche en que se abrió la puerta de Brandenburgo yo iba allí, colada entre la multitud, caminando de la mano de la historia, preguntándome: ¿qué hago yo aquí, si yo vengo de Concepción? Tenía doce años cuando tuvo lugar el Golpe de Estado de 1973. La dictadura había marcado mi adolescencia y juventud. En el Berlín amurallado había encontrado otro capítulo de la misma Guerra Fría. Con la caída del Muro, Chile y Alemania Oriental regresaban juntas a la democracia. La constelación bien valía una novela, que vine a escribir veinticinco años más tarde con el título “Luz en Berlín”. Luz es el nombre de su protagonista, una suerte de otra yo.

En mi trabajo literario busco la cercanía con los lectores. Evito la pose intimidante o grandilocuente bastante usual entre mis colegas. ¿Qué autoriza a un escritor o escritora a sentirse superior? Literatura es para mí comunicación, interpretación, búsqueda de nuevas perspectivas. Fondear con honestidad en lo evidente. En la herencia colonial que tanto nos pesa a los latinoamericanos, por ejemplo. Poder hacerlo con una base de conocimientos históricos es de gran ayuda. Porque a eso vine a esta ciudad, a doctorarme en esa disciplina en la Universidad Libre.

Vivo en un departamento a mi medida, a unos cien metros de la biblioteca del Instituto Iberoamericano. Todos los libros que necesito para mis incursiones literarias están allí, incluyendo las últimas novelas de mis colegas latinoamericanos. Sé que las puedo pedir en cualquier momento. No tengo que perderme ninguna lectura. Y a pocas cuadras se encuentra el restaurant Joseph-Roth-Diele, donde suelo citar a mis amigos, esperando el milagro de una comunicación de aire puro, motivante, fortalecedora.

Mi círculo es estrecho. Hace tiempo que dejé de salir a buscar en la noche berlinesa lo que Kafka llamó las trompetas ruidosas de la nada. Aunque a veces me aparezco por las reuniones y fiestas con la mirada empática de una antropóloga, una investigadora participante entre gente invocando la magnificencia de la vida. Berlín tiene muchos refugios para soñadores. El mío son mis cuatro paredes. Es allí donde se me aparecen a veces los espíritus y me llenan de asombro. Me emociono, les pregunto mil cosas y les agradezco, sobre todo les agradezco por medio de la danza y el llanto.

En el círculo estrecho hay algunos escritores alemanes a quienes conocí por medio de Jorge Edwards, cuando vino a la ciudad en 2014, invitado al Festival del Literatura. Estuvo un solo día y me dejó conectada con Peter Schneider, Hans Cristoph Buch, Marko Martin y otros. Con ellos aprendí que los escritores rondan sus temas toda la vida. Cada generación tiene los suyos. Ellos pertenecen a la del 68. Mi generación es la de la dictadura. Era el agua en que yo nadaba cuando era estudiante, cuando sospechaba que ésta era solo la punta visible de una montaña de hielo, cuya dimensión escondida era inmensa. El Golpe nos mostró que las entrañas heladas de la historia escondían sorpresas espantosas. He dedicado varias ficciones históricas a fondear en esas entrañas. Todo proviene de una raíz y una herida común que se inició hace siglos.

Cuando voy a Chile a promover mis novelas cuento que mis influencias más patentes no son escritores, sino filósofos, sobre todo uno: Arthur Schopenhauer. Lo he mencionado en varias ficciones y dediqué un relato a reflexionar sobre ese influjo: “Con Schopenhauer en el Gendarmenmarkt”. Ese saltar entre uno y otro lado del mundo, entre uno y otro idioma, es uno de los regalos que agradezco a los espíritus cuando me visitan. Me encanta llegar a Chile como de otra galaxia y sentirme extraña. Pasear por las calles de mi juventud con una sensación de alivio. Ya no soy esa joven retraída que se sentía intimidada por la arrogancia de algunos mientras rechazaba el resentimiento de otros. Solo admiraba a aquellos seguros de sí mismos que se atrevían a tejer en la clandestinidad la tela del país futuro en democracia. No participaba activamente en política, a pesar de que soñaba con vivir en una sociedad más igualitaria. Una sociedad en la que los ciudadanos fuéramos contemporáneos y no enemigos.

Salir de Chile me salvó de ser una resentida. Me vuelvo complicada, cortante, ácida cuando me despiertan esa parte de mí. Si en una reunión con chilenos me preguntan, por ejemplo, en qué colegio estudié, es como si me sacudieran una alfombra sucia en la cara. Se me sale el indio, como dicen allá; un dicho bastante racista, por lo demás. La rabia me vuelve creativa. Se me ocurren muchas respuestas, como decir que mi colegio no debe haber sido tan malo, tomando en cuenta los resultados. O digo de una vez, sin miramientos, tensando la atmósfera, que esa pregunta refleja el clasismo atávico de nuestra cultura chilena. Aunque en el último tiempo me he ido tranquilizando. Debe ser la madurez.

Desde que empecé a escribir, hablo como una mestiza del Bío-Bío que salió de su tierra natal rumbo a Alemania para regresar solo con sus libros, sin poses ni hipocresía. Berlín, la ciudad que se ha sobrepuesto a guerras y muros que parecían infranqueables, es el lugar ideal para ella.

எங்கே? // En˙ gē? // Where?
Avrina Prabala-Joslin
07.09.24

எங்கே?

-         அவ்ரீனா 

 

நேசத்தின் மடியில் 

உடல் மடிந்து 

கரங்கள் நீண்டு 

இரு கண்களும் 

ஒரே இடத்தை 

நோக்கி பார்க்கும்

ஏக்கமில்லா ஐக்கியத்தை

நீ விரும்பவில்லையா?

 

அதனால் தான் வெகு தூரம் சென்று

விலகி நின்றாயா? 

வேற்று மொழியில் 

வேற்றுமையின் வார்த்தைகளை 

கேட்க சென்றாயா? 

புத்தகத்தில் பக்கங்கள் பத்தாது

எனினும் கற்ப்பனையின் மண் வேறு.

பனி விழுந்து பூக்கள் சாகும் இடத்தில் 

பாதம் நட முயன்றாயா?

 

அடையாள அட்டையின் பின்னே 

உன் அம்மாவின் பெயர்

உன் அப்பாவின் பெயர்

வீட்டுக்கு கடிதாசி எழுதும்போது

முகவரியை துலைத்த இடத்தில் 

தேடி பார்ப்பாயா? 

 

அன்னிய தேசத்தில்

புண்ணியம் பஞ்சம்.

புரிந்தவுடன், வந்த 

பாதையில் பின் திரும்பியபடி

இரண்டு மனிதர்களாய்

பிரிந்து, உனக்கு இந்த திசை

உனக்கு அந்த திசை என்று

உன்னிடத்திலிருந்து 

வழிமாறிப்போனாயா?

 

தொலைவில் ஊளையிடும் ஓனாய்

நீ தானா? 

 

நேசத்தின் மடியில் 

உடல் மடிந்து 

கரங்கள் நீண்டு 

இரு கண்களும் 

ஒரே இடத்தை 

நோக்கி பார்க்கும்

ஏக்கமில்லா ஐக்கியத்தை

கண்டுகொள்வாயா?

A,B,C,D
Antonio Ungar
31.07.24

Aus dem kolumbianischen Spanisch von Christiane Quandt

Meine Freundin A ist aus Venezuela. 2013 kam sie nach Berlin, im gleichen Jahr, als Maduro Präsident wurde. Ihr Mann D, den sie vor neun Jahren kennengelernt hat, ist Deutscher. Aus Ostberlin. Bedächtig, großgewachsen, schüchtern verwaltet er die Buchhandlung eines sehr reichen Bayern. Sie haben zwei Töchter, neun und elf Jahre alt. Was D verdient plus As Einkommen als Architektin reicht für eine riesige Wohnung in Kreuzberg.

Meine Freundin B kommt aus Kolumbien. Als gelernte Betriebswirtin musste sie ihre Ansprüche in Berlin herunterschrauben. Jetzt macht sie die Abrechnung für zwei von Immigranten geführte Cafés. Ihr Mann C, ein Architekt aus den Niederlanden, lebt schon zwanzig Jahre in der Stadt. Sie haben drei sehr aufgeweckte und sportliche Söhne. C arbeitet mit meiner Freundin A zusammen. Er hat ihr die Arbeit verschafft. C und A sehen sich jeden Tag auf der Baustelle und lösen gemeinsam Probleme, erstellen Kostenvoranschläge, erinnern die polnischen und rumänischen Bauarbeiter daran, pünktlich zu erscheinen und die vereinbarten Arbeiten zu erledigen.

Bis zum Herbst 2021 waren A und B beste Freundinnen. Sie haben sich 2017 über C kennengelernt und stellten fest, dass ihre Vorliebe für afrikanische Musik, arabische Küche und all die verborgenen Winkel Berlins sie verbindet. Außerdem lieben beide die Stadt im Frühjahr und fürchten sie im Herbst. C, der Architekt und Mann von B, mietet jedes Jahr im Sommer dasselbe Ferienhaus in Norditalien. Saubere Luft, Wald, Blick auf die Dolomiten. A, B, C und D fahren immer gemeinsam dorthin. Sie machen lange Wanderungen, feuern den Holzofen an, lesen, unterhalten sich über Lateinamerika.

Manchmal laden sie noch andere Freunde ein. Im Sommer 21 waren meine drei Kinder und ich mit dabei. Natürlich habe ich es dann durch Zufall erfahren. Wir alle, außer B und D, waren früh zu einer Wanderung aufgebrochen. Nach einer Stunde auf Serpentinen zwischen Felsen spürte ich ein starkes Unwohlsein, das in Erbrechen mündete. Ich überzeugte die anderen davon, dass ich in der Lage war, alleine nach Hause zurückzugehen, was ich auch tat.

Als ich ins Haus kam, fand ich sie auf dem Sofa vor. B und D. Sie küssten sich und waren kurz davor, sich ihrer Kleider zu entledigen. B betrog ihren niederländischen Ehemann und D seine venezolanische Ehefrau. Sie sahen mich, standen hastig auf, richteten ihre Kleidung, und B ging in die Küche. D sah mich verschämt an. Ich sagte zu ihm, als wäre nichts gewesen, dass ich das Bad bräuchte, ich wolle duschen. Ohne es auszusprechen sagte ich ihm damit auch, er hätte keinen Grund zur Sorge, ich würde nichts verraten.

Drei Monate nach unserer Rückkehr nach Berlin wurden die Karten auf den Tisch gelegt. D eröffnete alles meiner Freundin A. B eröffnete alles ihrem Mann C. Ich weiß nicht, was sie im Einzelnen erzählt haben, aber bestimmt ging es in die Richtung, dass das Ganze nicht nur eine Laune, sondern etwas Ernstes war. B entschied sich für die Scheidung und für das gemeinsame Sorgerecht für seine Kinder mit C. D zog aus und traf eine inoffizielle Vereinbarung mit A, damit er die Mädchen hin und wieder sehen konnte.

A wurde ein bisschen verrückt. Sie experimentierte mit Drogen, was sie in der Zeit, wenn man das eigentlich macht, nie ausprobiert hatte. Tanzte bis zum Morgengrauen in Clubs. Hatte zehn Jahre jüngere Liebhaber. Ließ die Mädchen mehrere Nächte allein. Lief durch Parks und schnorrte Zigaretten bei Spaziergängern wie eine Bettlerin. Gab ihre Arbeit als Architektin auf, damit sie C nicht mehr sehen musste. Ihren Lebensunterhalt bestritten der deutsche Staat und D, der ihr noch immer in unregelmäßigen Abständen etwas schickt.

Mittlerweile sind drei Jahre vergangen. B und D sind noch immer zusammen. Seit der Trennung habe ich sie nicht mehr gesehen. Den zwei Mädchen und den drei Jungs scheint es gut zu gehen, offenbar haben sie alles verstanden, obwohl meine Kinder der Meinung sind, es ginge ihnen nicht gut und sie hätten gar nichts verstanden. A und ihr Exmann reden nicht miteinander und treffen sich auch nicht. Sie kann nicht zurück nach Venezuela. „Das Land hat sich so verändert, es ist nicht mehr meine Heimat“, sagt sie allen, die es sich anhören wollen: „Das Land wurde mir gestohlen.“ A hat keine beste Freundin mehr und keinen Ehemann. Sie hat auch keine große Lust mehr, weiterzumachen. Sie hat nur noch ihre zwei Töchter. Und dieses Berlin, das sie gleichzeitig liebt und hasst.

Berliner Bahnhöfe
Juan Carlos Méndez
31.07.24

Aus dem peruanischen Spanisch von Claudia Sierich

Quellen:

Berger, Timo. "Frutos del activismo literario." Voces Periféricas. Equidistancias: Buenos Aires-Londres, 2023.

Bolle, Willi. "Paris on the Amazon? Postcolonial Interrogations of Benjamin's European Modernism." A Companion to the Works of Walter Benjamin, Camden House, 2009, New York.

Kirsten, Jens. Lateinamerikanische Literatur in der DDR. Ch. Links Verlag, 2004, Berlin.

Klengel, Susanne, y Douglas Pompeu. "Literarische Nord-Süd-Beziehungen im Kalten Krieg: Geselligkeit im Widerstreit bei den Lateinamerika-Kolloquien in Westberlin 1962 und 1964." Berliner Weltliteraturen. Internationale literarische Beziehungen in Ost und West nach dem Mauerbau, De Gruyter, 2021, Berlin.

Klengel, Susanne. "Chilenisches Exil in Berlin Ost | Berlin West: Carlos Cerda und Antonio Skármeta." Berlin International. Literaturszenen in der geteilten Stadt (1970–1989), De Gruyter, 2023, Berlin.

Müller, Gesine. How is World Literature Made? The Global Circulations of Latin American Literatures. De Gruyter, 2021, Berlin.

Müller-Tamm, Jutta. "Berlin International: Literaturpolitik in den 1970er und 80er Jahren." Berlin International. Literaturszenen in der geteilten Stadt (1970–1989), De Gruyter, 2023, Berlin.

Pompeu, Douglas. "‘Tropische’ Literatur entlang der Mauer: Das geteilte Berlin aus der Feder brasilianischer Autoren." Berlin International. Literaturszenen in der geteilten Stadt (1970–1989), De Gruyter, 2023, Berlin.

Römer, Diana von, y Friedhelm Schmidt-Welle. Lateinamerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum. Vervuert Verlag, 2007, Frankfurt am Main.

Streckert, Jens. París, capital de América Latina. Universo de Letras, 2019, Sevilla.

Vargas Llosa, Mario. "Berlín, capital de Europa." Obras completas X. Piedra de toque (1984-1999), Galaxia Gutenberg, 2012, Barcelona.

Von Kälte durchflutet, von Schnee umhüllt und ab vier Uhr nachmittags eingenachtet verwenden Berliner lateinamerikanische Romane vor dem Mauerfall nicht nur die Jahreszeiten, sondern gerade auch Bahnhöfe als ganz konkrete Symbole für die Grenze, die Schwelle, die Mauer, die zwei staatliche Ordnungsgebilde trennt.Eine innere Spannung (zwischen Ost und West) und eine äußere (zu Paris) machten Berlin zum fruchtbaren Raum, der lateinamerikanische Schriftsteller aufnahm: Die Einladungen erfolgten einerseits durch das Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und das Literarische Colloquium, andererseits durch den Schriftstellerverband der DDR, der von 1952 bis 1978 von Anna Seghers geleitet wurde. Die vom Ibero-Amerikanischen Institut, das damals noch in der Siemensvilla in Lankwitz residierte, 1962 und 1964 organisierten Kolloquien und die Veröffentlichung von Werken des sogenannten »Booms« durch Verlage wie Volk und Welt (im Osten) und Suhrkamp (im Westen), sowie die Tatsache, dass Lateinamerika auf der Frankfurter Buchmesse 1976 Ehrengast und auf dem Festival Horizonte Berlin 1982 Themenschwerpunkt war, bildeten einen günstigen Rahmen, den Mario Vargas Llosa nach zweimaligem Aufenthalt in der Stadt 1998 folgendermaßen zusammenfasste: »Ich wage vorauszusagen, dass Berlin als geistige Hauptstadt Europas Paris ablösen wird.« Unabhängig davon, ob diese Prophezeiung sich nun erfüllte oder nicht, ist die reine Möglichkeit schon eine Spur, die verfolgt werden will.

KALTER KRIEG. HIER, DORT UND UMGEKEHRT

Der Kalte Krieg und sein scheinbares Ende hatten nicht nur Auswirkungen in Deutschland und Europa, sondern auch in Lateinamerika, wo die gleichzeitig bestehenden Diktaturen nicht als spontane Erzeugnisse verstanden werden sollten, sondern eher als Teil einer repressiven Strategie, die auf ein umstrittenes Territorium ausgeübt wurde: Das »schlechte Beispiel« Kubas sollte sich nicht ausbreiten.Staatsstreiche, zivil-militärische Regierungen und Diktaturen lösten einander ab: in Argentinien (1966-1973), 1976-1983), Brasilien (1964-1985) und Chile (1973-1990), in Uruguay, Paraguay und Peru. Kinder der Diktaturen, einige nach Deutschland geflüchtete, ins Exil gegangene oder mit Stipendien ausgestattete Schriftsteller spiegelten diese Gewalt in ihren Werken wider, so etwa Carlos Cerda (Chile) in Morir en Berlín (1993; Deutsch: Santiago-Berlin, einfach, übersetzt von Petra Strien, Luchterhand, 1995), Esther Andradi (Argentinien) in Berlín es un cuento (2007; Deutsch: Drei Verräterinnen, übersetzt von Christiane Quandt, KLAK Verlag, 2019) und Rubem Fonseca (Brasilien) in Vastas emoções e pensamentos imperfeitos (1989; Deutsch: Grenzenlose Gefühle, unvollendete Gedanken, übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner, Piper, 1991) – drei Romane, die vor dem Mauerfall spielen. Und während die Wiedervereinigung Deutschland verwandelte, verwandelten sich auch die lateinamerikanischen Gesellschaften. So wurde nicht nur der Ankunftsort ein anderer, sondern auch die Eintreffenden waren anders: Im Berlin nach 1989 landeten die Kinder der »dritten demokratischen Welle«, wie die Politikwissenschaft sie bezeichnet, des Zeitabschnitts also, der auf die Diktaturen und die »Operation Condor« folgte. Sie veröffentlichten andersgeartete Bücher: Berlín también se olvida (2004; unübersetzt) von Fabio Morábito (Mexiko), Vamos a tocar el agua (2017; unübersetzt) von Luis Chaves (Costa Rica) und Diario pinchado (2020; unübersetzt) von Mercedes Halfon (Argentinien) sind gute Beispiele dafür. Diese Kurzromane werden hier aus Platzgründen nicht im Detail kommentiert. Aus ebendiesem Grund werde ich mich auf nur ein Thema konzentrieren, das die drei Romane der erstgenannten Gruppe gemeinsam haben: die Bahnhöfe.


SANTIAGO–BERLIN, EINFACH: Ein chilenischer Ossi

Carlos Cerda (1942-2001) studierte Theater und Philosophie an der Universidad de Chile und arbeitete dann beim Tagesblatt El Siglo, dem offiziellen Organ der kommunistischen Partei Chiles. Nach dem Militärputsch 1973 ging er nach Ostberlin ins Exil. Er lernte Deutsch und promovierte an der Humboldt-Universität, wo er von 1979 bis 1984 Vorlesungen zur lateinamerikanischen Literatur hielt. Als Autor von Theaterstücken, Hörspielen, Erzählungen und Romanen wurde er nach seiner Rückkehr nach Chile im Jahr 1985 Professor für Dramaturgie an der Universidad Católica. Santiago–Berlin, einfach berichtet von den letzten Lebenstagen des Don Carlos, auch »der Senator« genannt, eines herausragenden Mitglieds des »Partei-büros«, einer kafkaesken Institution, die das Leben der Bewohner des »Ghettos«, wie die chilenische Exilgemeinschaft genannt wird, kontrolliert. Visa, Reisegenehmigungen, Scheidungsanträge: Das »Parteibüro« bestimmt über Gegenwart und Zukunft, ja sogar über das Schicksal des Senators, dessen Wunsch, zum Sterben nach Chile zurückzukehren, trotz eines jüngst festgestellten Krebsgeschwürs nicht erfüllt wird. Stilistisch gesehen fällt bei Cerda der Einsatz eines sprechenden Chors auf, eines »Wir«, das die Begehren, Mutmaßungen und Träume der Gruppe der Exilanten zum Ausdruck bringt. Der Roman spielt in Ostberlin, in einer Wohnung am Alexanderplatz (wo Mario mit seiner deutschen Geliebten lebt) und an der Staatsoper (wo die in Dresden geborene Leni tanzt). Weitere wichtige Orte sind zwei Häuser in Lichtenberg: eins in der Volkradstraße (wo Don Carlos und seine Nachbarin Leni leben, die in einer eigenartigen sentimentalen Beziehung stehen) und eins in der Elli-Voigt-Straße, in der der Großteil des »Ghettos« lebt (so auch Lorena und ihre Kinder, die von Mario verlassen worden sind). Ein bedeutsamer Platz in Santiago–Berlin, einfach ist der Bahnhof Friedrichstraße, eine Station, die die Stadt »verrät«, ein Ort, »der unerbittlich preisgibt, was die Stadt tunlichst zu verbergen sucht« (102). Cerda beschreibt den täglichen Grenzübertritt von West nach Ost Tausender von Jugendlichen, die »voller Staunen Museen und Theateraufführungen besuchten« (ebd.). Auf der anderen Seite stehen Tausende alter Leute genauso lange Schlange, denn: »Der Grenzübergang in den Westen war den Rentnern als einzigen Ostberlinern gestattet.« (ebd.)Außer der Jugend strömt vom Westen aus auch regelmäßig eine Horde Alkoholiker für den Kauf von billigem Korn oder Wodka auf die Ostseite der Grenze: »Sie kamen schon früh zur Friedrichstraße, besorgten sich die dringend benötigte Ware, kehrten dann zurück, um sich in der Umgebung des Bahnhofs Zoo in der Gosse niederzulassen und dort ihre Flaschen zu leeren. Im Winter okkupierten sie dunkle Ecken dieser anderen Endstation, legten sich auf die Fliesen, inmitten von herumliegenden gebrauchten Spritzen [...]« (105)Aber auch Andradi und Fonseca interessieren sich für Berliner Bahnhöfe.

DREI VERRÄTERINNEN: Eine Argentinierin ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Sprache

Esther Andradi (1956) studierte Kommunikationswissenschaften in Argentiniens drittgrößter Stadt Rosario und floh 1975 vor der politischen Gewalt nach Lima. Dort arbeitete sie als Journalistin und war Koautorin des Interviewbandes Ser mujer en el Perú(1978; unübersetzt), der zu einem Klassiker der feministischen, nicht fiktionalen Literatur wurde. Zwischen 1980 und 1995 lebte sie in Berlin.

Nach sieben Jahren in Buenos Aires kehrte sie 2003 in die deutsche Hauptstadt zurück. Andradi ist Autorin des Erzählbandes Come, éste es mi cuerpo (1991; unübersetzt), Herausgeberin von Vivir en otra lengua. Literatura latinoamericana escrita en Europa (2007; unübersetzt) sowie Verfasserin von Mi Berlín. Crónicas de una ciudad mutante (2015; Deutsch: Mein Berlin. Streifzüge durch eine Stadt im Wandel, übersetzt von Margrit Klingler-Clavijo, KLAK Verlag, 2016) und von La lengua de viaje. Ensayos fronterizos y otros textos en tránsito (2023; wird zurzeit ins Deutsche übersetzt). Sie lehrt am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.Drei Verräterinnen erzählt die wilde Eingewöhnung von Bety, einer Argentinierin, die Anfang der 1980er Jahre in Westberlin eintrifft. Eigentlich lebt sie in Lima, einer von Deutschen geliebten Stadt, weil dort ewiger Sommer herrscht und es Indios gibt, doch Bety verliebt sich in einen Deutschen und folgt ihm nach Europa. Dort erfährt sie, dass er verheiratet ist und nicht vorhat, sich scheiden zu lassen. So ist sie gezwungen, Berlin von seiner prekären Seite kennenzulernen und geht verschiedene Allianzen ein: mit zwei deutschen Frauen (Gefährtinnen in einem besetzten Haus) und mit anderen Lateinamerikanern (Martín, einem argentinischen Anarchisten; »dem Propheten«, einem Chilenen, der die Folter im Estadio Nacional in Santiago überlebt hat; »Favela«, einem Brasilianer, der Vögel aus dem Amazonas schmuggelt und Dokumente fälscht; und Leo, einem Perua-ner, der sich als Schauspieler ausgibt, aber in Wirklichkeit Zirkusjongleur ist). »Ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Sprache« macht Bety, die auch »Die Schriftstellerin« genannt wird, noch etwas Verrücktes: Sie widmet sich dem Schreiben, was dieser Roman an jedem Kapitelanfang vorführt, wo die schriftstellerischen Versuche der Hauptdarstellerin nachzulesen sind.Während Cerda sich auf den Stadtteil Lichtenberg konzentriert, bewegt sich Andradi in Schöneberg zwischen Winterfeldtplatz und Potsdamer Straße. Und während bei Cerda der Bahnhof Friedrichstraße im Fokus steht, ist es bei Andradi der Bahnhof Zoo, über den man nach Westberlin gelangte: »Nichts von dem, was man dort sah, stimmte mit irgendeinem Bild überein, das [Bety] einmal von Deutschland gehabt hatte. Es war weder sauber noch ordentlich noch gepflegt oder sicher, der Zoo war das Königreich von Obdachlosen, drogenabhängigen Jugendlichen, Prostituierten, Bettlern und Säufern, insgesamt ein Szenario, das eher an die Dreigroschenoper erinnerte als an die Bilder vom Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Hier hatte der Krieg nie aufgehört. Die Züge hielten an den Bahnsteigen einer geteilten Stadt, wo die Bahnbeamten aus Ostberlin – der Hauptstadt der DDR– und die Polizisten aus dem Westen kamen« (42). Andradis Roman spielt Anfang der 1980er Jahre. Fünfunddreißig Jahre später präsentiert uns eine weitere argentinische Autorin, Mercedes Halfon, in Diario pinchado ebenfalls eine Frau, die einem Mann nach Berlin hinterreist. Erstere folgt einem Deutschen, Letztere einem Argentinier, der ausgerechnet Dichter ist. Beide Frauen haben weder Glück noch Erfolg. Während bei Andradi die Mitglieder der lateinamerikanischen Gemeinschaft sich mit prekären Jobs durchschlagen, leben bei Halfon alle in der Obhut von Institutionen, die meisten haben Stipendien. Ein weiterer Unterschied: Bei Andradi lungern die Skinheads auf der Straße herum, sind angriffslustig und gefährlich. Nun werde ich zwar nicht behaupten, dass die Skinheads bei Halfon im Bundestag sitzen, da ihr Kurzroman 2015 spielt, aber nur zwei Jahre später verwandelte die Alternative für Deutschland (AFD) diesen Irrsinn in Wirklichkeit.

GRENZENLOSE GEFÜHLE, UNVOLLENDETE GEDANKEN: ein Brasilianer aus den Tropen und die deutsche Angst

Rubem Fonseca (1925-2020) ist einer der großen Schriftsteller des 20.Jahrhunderts. Als Autor herausragender Werke wie des Erzählbandes O cobrador (1979; deutsch: Der Abkassierer, übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner, Piper, 1989), Novellen wie E do meio do mundo prostituto só amores guardei ao meu charuto (1997; unübersetzt) und Romanen wie A grande arte(1983; unübersetzt) und Agosto (1990; deutsch: Mord im August,übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner, Piper, 1994) ist Fonseca mit den Literaturpreisen Machado de Assis, Camões, Juan Rulfo und Iberoamericano Manuel Rojas ausgezeichnet worden. Aus Minas Gerais, wo er geboren wurde, kam der ExPolizist 1985 nach Berlin, nachdem ihm soeben für A grande arte in Brasilien die Goethe-Medaille verliehen worden war. Das Ergebnis seines vom DAAD organisierten Aufenthalts war der Polizeiroman Grenzenlose Gefühle, unvollendete Gedanken, der sich am Ku’damm, in Bars, Kinos und Restaurants in der Nähe des Hotels, in dem der Protagonist unterkommt, abspielt, nur wenige Meter von der U-Bahn-Station Uhlandstraße entfernt – eine Gegend, die kaum zwanzig Jahre später auch Morábito erkundet, während Chaves selbiges mit dem Stadtteil Friedenau und Halfon mit Mitte tun. Fonsecas Roman beginnt in Rio de Janeiro. Der Protagonist erzählt in der Ich-Form, wie ihm eine unbekannte, verzweifelte und verfolgte Person in seiner Wohnung ein geheimnisvolles Paket übergibt. Er weiß nicht, dass es Rubine, Diamanten und Smaragde enthält. Ein paar Tage später taucht die Frau in den Nachrichten auf. Als verstümmelte Tote. Gleichzeitig wird der Protagonist, ein Filmregisseur, nach Deutschland eingeladen. Ein Produzent möchte, dass er aus dem Erzählband Die Reiterarmeevon Isaak Babel ein Drehbuch schreibt und ihn in Berlin verfilmt. Er entkommt. Landet in Tegel. Die Straßen sind verschneit. Kurz darauf liefert er den ersten Drehbuchentwurf. Eine deutsche Babel-Expertin liest es und kommentiert: »Unglaublich. Daß ein Latino aus den Tropen so gut die russische Seele versteht.« (150) Danach wird die Handlung komplexer, Ziel ist nun nicht mehr die Flucht, sondern einen verlorengegangenen Roman von Babel in Ostberlin aufzutreiben. Ein Russe verkauft das Buch an den besten Bieter. Der Protagonist muss Dollar-Bündel unter seiner Kleidung verbergen und den Grenzübergang an der Friedrichstraße passieren, um zu bezahlen und das Manuskript entgegenzunehmen: »Der Blick der Grenzsoldaten war hart und konzentriert. Sie sahen in den Paß und dann den Leuten ins Gesicht, direkt in die Augen. [...] Es gehörte zur Routine, aber ich fing vor Aufregung an zu schwitzen. Und je mehr ich schwitzte, umso angespannter wurde ich. [...] Ich mußte an Die Angst des Tormanns beim Elfmetervon Wim Wenders denken. Ein Polizist erklärt darin einem Mann, wie man einen Verbrecher entlarven kann: ‚Wir müssen ihnen in die Augen sehen.‘ Der Mann, der mit dem Polizisten redet, ist ein gesuchter Mörder, aber der Polizist verdächtigt ihn auch nicht eine Sekunde lang. In Wirklichkeit blicken die Polizisten einem Mörder in die Augen und sehen nichts. Oder sie sehen vielmehr genau dasselbe, was sie in den Augen eines Unschuldigen sehen. Diese Soldaten mit ihren schönen Uniformen an der Grenze zwischen den beiden Berlins blickten den Leuten nur in die Augen, um sie einzuschüchtern, sie befolgten nur eine bürokratische Routine und sahen auch nichts. Wenn ich mich nicht einschüchtern ließ, würde mein Blick genauso rein sein wie der einer alten Frau in der anderen Reihe, die ihre Taschen mit Einkäufen schleppte. Als ich bis zu dem ersten Soldat vorgerückt war, schwitzte ich nicht mehr.« (192 f.)

Die psychologische Schilderung der Angst ist ein Unterschied gegenüber den weiter oben beschriebenen Romanbeispielen. Fonseca dient der Bahnhof auch zur Innenschau seines Protagonisten.Cerdas Progatonist Don Carlos muss wegen einer Erledigung im chilenischen Konsulat nach Westberlin. So kann er beim Grenzübergang die Bahnhöfe auf beiden Seiten vergleichen. Sie haben »die Schäbigkeit« gemein und spiegeln außerdem das jeweilige politische System wider: »Zwar war der Bahnhof Friedrichstraße in all seiner Erbärmlichkeit sauber und gepflegt, unddoch wirkte er beängstigend brutal: Oben hielten die Posten von den Aussichtspunkten aus Wache und ließen von Zeit zu Zeit ihre scharfen Hunde kläffen. Der Bahnhof Zoo war offen und bombastisch, und da niemand am Elend der anderen Anstoß nahm, der ideale Ort für den Abschaum. Hier Soldaten, dort Müll; hier Wachhunde, dort leere Flaschen, weggeworfene Spritzen in den Ecken. Während sich am Bahnhof Friedrichstraße das Elend der totalen Macht über ein Volk offenbarte, war es im Bahnhof Zoo das Elend der von den Mächtigen total Verlassenen.« (105 f.) Sprache, Thema und Struktur machen aus Santiago–Berlin, einfach einen sehr interessanten Roman, der vergriffen ist und neu aufgelegt werden sollte. Während bei Cerda der durch die kommunistische Bürokratie hervorgerufene Frust das dominante Empfinden ist, bieten heruntergekommene Gebäude, Kohlehei-zung und Skinheads in Andradis Westberlin kein besseres Panorama; die Pers-pektive der Frauen – Lateinamerikanerinnen, aber auch Deutsche -, ihre Dilem-mas, Träume und Verhaltensweisen machen aus Drei Verräterinnenein Stück großartiger Fiktion: unterhaltsam, informativ und unerschrockenhumorvoll. Grenzenlose Gefühle, unvollendete Gedankengilt zwar nicht als Fonsecas bester Roman, aber er ist ein großer Schriftsteller, und obgleich er eine Welt voller Zynismus und Gewalt beschreibt, hat er dank seiner literarischen Fähigkeiten ein zeitloses Werk geschaffen.

Dann ist wieder Sonne
Ralph Tharayil
31.07.24

Er spricht von Fallen.

Er spricht von Fallen, die er aufstellt, spricht von Fledermäusen und dem Gehör der Tiere im Dunkeln.

Er spricht vom frühen Schlaf und von den Nachrichten, die er von seinem Anwesen aus an Bekannte in Europa verschickt, von den Nachrichten auf WhatsApp und jenen auf YouTube.

Er spricht von den Schwärmen und ihrem Flügelschlag, wie er ihren Schall nicht sieht.

Er sieht den Kot, den sie hinterlassen auf der Terrasse und auf den Oberflächen der Panoramaverglasung. Er selbst hat alles von Hand gereinigt.

Diese Tiere, diese Tiere schenken nur dem Dunkel Glauben, sagt er und spricht von Arbeit.

Er erntet die Mangos und Avocados. Er erntet die Ananas und schaut nach dem Kurkuma im Gebüsch und unter der Erde.

Er erntet die Jackfruit im Garten. Er weiß von ihrem Stamm und von ihrem Fall. Er steigt auf eine Leiter und trennt die Frucht mit einer langen Harpune vom Baum.

An der Frucht beobachtet er die Schwerkraft. Die Frucht fällt vom Stamm. Er ebnet die Druckstellen mit seinem Daumen, die Hände beflissen, unbeirrt, und trägt die Frucht auf der Schulter ins Haus.

Die Sonne setzt sich zur Ruhe.

Er denkt daran, dass sein Sohn ihm bei seinem letzten Besuch von dieser Frucht erzählt hatte. Dass ihr Fruchtfleisch Perianth genannt wird und dass es im Innern der Frucht in ellipsoiden Verbänden angeordnet ist.

Bald wird er aufstehen und die Frucht anschneiden.

Sie liegt auf einem Jutesack unter der Spüle und es ist sein eigenes Land, auf dem er steht. Sein in der Schweiz erstandener Hochdruckreiniger, der in Teile gelegte, im Hartschalenkoffer über den Golf von Oman in dieses Haus verfrachtete Hochdruckreiniger.

Einmal sagte sein Nachbar, dass Faulheit eine Krankheit der Weißen sei. Sahibs kamen, nahmen und gingen, und uns blieb dieser Rest.

Er weiß, dass das nicht stimmt. Seine Vorfahren sind verstorben und sie haben ihm dieses Land vermacht.

Die Mikrofasertücher, Putzhandschuhe und Reinigungsmittel, die verchromten Anschlüsse für das Lavabo, die Universalduschbrausen und Teile für die Sprinkleranlage, die er bei landi.ch erstanden hat.

Er hält sich an den Schultern und schaut auf das Land.

Er braucht nichts zu wissen von Ellipsen und Perianth.

Er kennt die Ordnung der Früchte im Garten auch so.

Es sind Papayas, die er heranzüchtet. Es sind Bananen und Ananasstauden, ihre rosafarbenen Hochblätter, die er nach Bedarf mit der Heckenschere stutzt.

Er kennt die Früchte der Arbeit, seine Füße in den Sandalen aus Kautschuk oder falschem Leder.

Er weiß vom Geschmack der Jackfruit im Fleischgericht, von ihrem süsslichen Duft im Vergehen des Tages, er kennt ihre faserige Konsistenz aus der Zeit der Unschuld.

Er weiß vom Baumstamm, den er jeden Morgen abklopft. Er muss nur darauf achten, dass sich kein Geräusch eingeschlichen hat, dass kein Ungeziefer diesen Baum befallen hat.

Seit Tagen türmen sich Kleider auf den Stühlen.

Irgendwo im Garten leckt ein Schlauch.

Er hält einen Mittagsschlaf.

Er weiß von der Arbeit in der Küche und in den Bädern.

Er trägt ein ärmelloses Ripphemd, ausgewaschene Jeans.

Er trägt morgens Rasierschaum und einen Schirmhut.

Er kümmert sich um den Garten, der vor und hinter und neben dem Haus, der um das Anwesen herum verläuft.

Nachts dann eine Notiz, im Müll, den er leert im Zimmer seines Sohnes.

(eine mir geliebte person, erkenne ich nicht an ihren fähigkeiten, sondern an den verben, die ihr angemessen sind. du ackerst, du schläfst. du säst, du erntest. am tunwort bemesse ich den grad deiner liebe zu dir selbst.)

Er erinnert sich nicht mehr an die Tätigkeiten der letzten Tage. Er erinnert sich nicht, seinen Sohn nach Hilfe gefragt zu haben.

Er stutzt sich die Haare, schneidet die Nägel an Fingern und Zehen.

Er jätet das Unkraut und bewässert die Gräser.

Er poliert die Türrahmen, er platziert die Fallen für die Tiere, die mit ihren Augen sehen und nicht mit den Ohren.

Er flickt die Schläuche und repariert die Pumpe, die das Wasser aus dem Brunnen durch die Leitungen untertags nach oben ins Haus befördert, er geht der Sonne aus dem Weg.

Ein Wasser.

Darin der Saft einer frisch gepressten Limette.

Zucker oder Salz.

Er wäscht das Geschirr mit den Händen, er schaut nach dem Stromgenerator, er hängt die Wäsche auf.

Er reinigt sich.

Die Insekten, Mäuse und Marder.

Die Schlangen und Spinnen.

Er brät sie mit dem elektrisierten Tennisschläger.

Er kennt keine Listen.

Er macht sich jeden Tag aufs Neue dem Erdboden gleich.

Er erzählt sich das Tun während des Tuns, und danach ruht er.

Er schlägt einer Fledermaus, die sich im Kleiderberg versteckt, den Flügel ab.

Als sein Sohn ihn das letzte Mal besuchte, hatte er bemerkt, wie fremd er ihm geworden war. Je mehr Wissen er anhäufte, desto unverständlicher wurde er. Er hatte gerade ein Deutschstudium in Basel abgeschlossen. Warum er eine Sprache studierte, die er ohnehin perfekt beherrschte, war ihm ein Rätsel. Eine Sprache, in der er auch hier sprach, in der er ihm immer wieder Fragen stellte. Zu seiner Arbeit in Schweizer Textilfabriken, seiner Zeit im Norden dieses Landes, zu seinen Vorfahren. Woher kam das plötzliche Interesse an seinem Leben, den Umständen.

 

Dann kam sein Sohn auf Früchte zu sprechen, und erzählte, dass Jackfruit der Kolonialname sei für Chakka, wie die Frucht auf Malayalam hieß. Sie wurde auch Jakobsfrucht genannt, hatte er gesagt. Sie war vor einigen hundert Jahren erstmals von einem portugiesischen und später von einem holländischen Kolonialoffizier in einem Buch über die Botanik der Malabarküste aufgelistet worden. Chakka wurde zu Jack und Jack zu Jakob, und so als Nomenklatur in der einzig möglichen Realität zur Existenz gebracht. Das oder etwas Ähnliches hatte sein Sohn gesagt und ihn mit prüfenden Augen angeschaut.  Mein Sohn, er wäre ein guter teacher dort, wenn er wollte, hatte er gedacht.

 

Er verschüttet Universalerde.

Er streut Rindenmulch, dort, wo der Rasen abfällt.

 

Er schaut nach dem Zustand der Gräser, er installiert die Sprinkleranlage.

 

Er ölt das Scharnier am Tor, das zum Grundstück des Nachbarn führt. Er winkt ihm zu, als er ihn aus dem Haus kommen sieht, und sein Nachbar winkt zurück, grüßt ihn, fragt ihn, wie es ihm geht und seinem Sohn, ob er das medicine Studium abgeschlossen habe in Swisserlend.

 

Er bejaht und mariniert das Rind.

Er lüftet das outhouse, er konfiguriert die Automatik des Eingangstors.

 

In einer provisorischen Müllanlage an der Küste, in der Ferne am Meer, wird Plastik verbrannt und es ist der Wind, der den toxischen Rauch ins Landesinnere treibt, in seinen Garten, vorbei an den Kirchen und kommunistischen Denkmälern.

 

Der sich senkende Rauch auf den Ohren der Tiere, auf der Jackfruit unter der Spüle.

 

Während eines gemeinsamen Ausflugs an die Küste, hatten sie geröstete Erdnüsse gegessen und waren zur Franziskanerkirche spaziert, um das Grab von Vasco da Gama zu besichtigen. Sie hielten einen Mittagsschlaf vor dem Altar.

 

Die Fischer, wie sie ihre Netze auswarfen, die Öltanker aus Singapore und Hongkong. Sie holten sich Vegetarisches beim neu eröffneten McDonalds.

 

Zuhause, im Radio, war die Rede von der Gewalt an Christen, im Nordosten des Landes, fernab, an der Grenze zu Myanmar, und sie hatten sich gestritten. Warum darüber sprechen, wenn diese Gewalt noch nicht hier ist, wo er auf seinem eigenen Land ist, sagte er. Weil sie Privilegien besäßen, die es ihnen erlaubten über die Verhältnisse zu sprechen. Weil sie keinem eingetragenen Stamm angehörten, kein Teil eines indigenous tribe waren, wie diese Menschen, die von Hindus getötet und verfolgt worden seien. Wir können sein wie sie, aber sie nie wie wir, sagte sein Sohn, und kurz darauf:  

 

Nein. Es ist nicht das. Es ist, dass du schweigst, genau wie die indische Regierung, die die Täter nicht verurteilt. Es ist deine Faulheit zu sprechen. Du und deine Zunge, warum sprecht ihr nicht, du und dein faules Organ.

Er wusste nicht, seit wann sein Sohn selbst so viel sprach. War es das, was er im Studium lernte. Organkunde? Wäre er doch lieber Arzt geworden.

Die Messer und Gabeln, der Glanz seines polierten Bestecks.

Mit wem sollte er sprechen. Worüber sollte er sprechen.  

Wer sollte ihn hier belangen.

Die Polizei?

Der Mob aus Männern?

Die zwei Frauen im Nordosten des Landes, in Manipur?

Ihre zerrissene Kleidung?

Die Dorfstraße und der Staub?

Die mobile phones und ihre Speicher?

Ihre bloße Haut, ihre versehrten Körper?

Das stumme Blaulicht?

Die Knie, die Schreie, ihre Strähnen von blutigem Haar?

Die Steine, die Schläfen?

In seinen Träumen sind es die wiederkehrenden Orte der Nacht, aber hier und jetzt, tagsüber in seinem Garten, ist er es, der alles prüft auf Gedeih und Verderb.

Diese Erde, sie gehört zu den Kernen der Früchte, die er einmal unter der Zunge wendet und in den Garten spuckt. Sie gehört ihm, und sie gehörte seinem Sohn, wenn er wollte.

 

Bei der Grundsteinlegung hatte der Pfarrer ein Kreuz in die rostfarbene Erde gelegt. Es liegt noch immer vergraben unter dem Haus und soll dieses Land vor dem Land beschützen, seinen Tieren und Dieben, den Bedürftigen.

 

Die Stimme des Geistlichen. Sie stimmt ein Lied an, sein schweißbeflecktes Taschentuch in der Mittagshitze.

 

Nachdem sein Sohn ihn der Faulheit bezichtigt hatte, sprachen sie noch weniger als zuvor. Er verschwand jeden Morgen und kam erst spätabends wieder zurück. Er fragte ihn nie, wohin er ging, oder was er tat. Solange er zurückkam, war er für ihn nicht verloren. Er brauchte keine Hilfe im Garten.

 

Auf dem Schreibtisch, eine Notiz des Sohnes, die er zu lesen beschließt:

 

(bei b. gelesen: einmal ist keinmal, und wie er damit den prozess, des denkens und des schreibens meint, und wie er trotzki zitiert, wie dieser seinen vater beim bestellen der felder beschreibt, wie dieser ohne eitelkeit und mit großer zurückhaltung die erde pflügt, von hand und mit gebeugtem rücken und wie er nie zurückschaute auf die reste des bodens, wie sie eine spur der verlorenen erinnerung hinterließen, wieviel land braucht der mensch? er braucht so viel, wie er mit seinen schritten zu bemessen vermag, nicht mehr, bloß weniger, von der gier der gliedmaßen, der gier der beine, one or two acres of love auf diesem weißen blatt papier, niemand will mehr, it is here where i imagine speaking to you, dir entgegenzukommen, pa, dich auf irgendeine art zu bemessen, vielleicht nicht mit diesen worten, vielleicht wäre das zu viel verlangt, vielleicht brauche ich nur meine ellen und meine füße und nicht dieses alphabet, um dich als fragment deines körpers  zu katalogisieren, ich kenne dich aber gar nicht, ich kenne nur den menschen, der dich beobachtet, der dich bei der arbeit betrachtet, der seine eigenen finger krümmt im bogen eines buchstabens und auf die knie fällt hernach.)

Er versteht die Notiz nicht. Aber er weiß von der Geschichte der Gier. Sein Sohn hatte sie ihm erzählt.

 

Seine Erinnerung, wie er sich entschied, die Geschichte wieder zu vergessen.

 

Die Geschichte von der Gier des Geistes und der Gier der Gliedmaßen, die an seiner Stelle auf diesem Land Furchen in die Erde gegraben haben soll.

 

Er erinnert sich an die Geschichte. Wieviel Land braucht ein Mensch? hiess sie und sei von einem berühmten russischen Schriftsteller. Sie handle von ihm selbst, hatte sein Sohn gesagt. Wenn du nicht aufpasst, wirst du wie er, wie Pachom, der reiche Bauer, der seiner Gier zum Opfer fällt.

 

Er beseitigt den Schimmel an den Innenwänden des outhouses.

 

Er aktiviert die Sprinkleranlage und schaut nach den Hochblättern der Ananasstauden.

 

Er positioniert eine Kunststofftonne und schraubt den Regensammler fest.

 

Vor dem Eingangstor eine Truppe marschierender Männer in safranfarbenen Roben.

 

Ihre Rufe, die er nicht hört.

 

Was sein Sohn nicht versteht: Gier kommt rechtmäßigem Erbe nicht gleich. Er besitzt genau so viel, wie er mit seinem Körper bemessen kann. Nicht mehr und nicht weniger. Und selbst, wenn es mehr wäre. Es wäre seine Aufgabe, die seines Sohnes, sich um den Überschuss zu kümmern.

 

Er wollte immer das Beste, ja. Aber er wollte nicht mehr.

Er hat nichts zu tun mit diesem Pachom.

 

Was sein Sohn nicht versteht: Demut und der erste Anblick von Schnee im Erwachsenenalter in einem Niemandsland.

 

Was er nicht versteht: Die Scham der falschen Sprache, das Ausbleiben der Aussprache.

 

Was er nicht versteht: Kinder großzuziehen bei ausbleibendem Kinderwunsch, Schichtdienst morgens um 5, wo Arbeit fruchtbar zu machen ist zwischen Donner und Stahl.

 

Was er nicht versteht: Arbeit nicht nur dem Zweck des Erhalts, sondern des Wachstums, und auch als Mittel gegen die Verwesung und den Zerfall der Familie, das Fehlen des Vaters, jetzt das Fehlen der Mutter.

 

Was er nicht versteht: Krankheit und Kompromisse und dass das hier sein Ruhestand ist. Dass das nur sein Land wird, wenn er es als solches annimmt mit all seinen Schwächen.

 

Was sein Sohn nicht versteht: Dass die Frucht nicht Jakobsfrucht und nicht Chakka heißt, sondern ചക്ക.  

 

Nachts dann, der Traum, wie die Fledermäuse sein Anwesen befallen. Wie er versucht sie mit dem elektrisierten Tennisschläger zu vertreiben. Wie sie sich mit jedem Hieb vermehren und nicht aufhören zu fressen, an ihm zu nagen, wie er zu flüchten versucht zum Tor hin, und wie es weiter in die Ferne rückt, je näher er ihm kommt, das Anwesen plötzlich ein ewig expandierender Kosmos.

 

Der Schweiss und der leise Schrei. Die Nachfrage seines Sohnes, ob alles in Ordnung sei, dass er ihn nachts noch nie habe schreien hören.

Die Sonne kämpft sich durch den Dunst.

40 Grad Celcius im Schatten, die Reisfelder und ihre Dürre.

Er rollt den Gartenschlauch ein. Es war der letzte Abend vor der Abreise seines Sohnes, der auf der Terrasse saß und las.

 

Er platziert die Jackfruit auf der Küchenablage und schneidet sie an.

 

Er kennt die Flüssigkeit, die klebt und beim Anschnitt aus der Mitte der Frucht austritt. Die Frucht läuft aus und der Jutesack, der Küchenboden klebt.

 

Der Saft der Jackfruit ist weder mit Wasser noch mit Seife zu reinigen, nur mit Spülmittel und mit Petroleum.

 

Was wirst du machen, welche Arbeit, hatte er ihn gefragt, während sie das Fleisch der Jackfruit mit ihren Fingern vom Kern trennten. Schreiben, hatte sein Sohn geantwortet. Das war keine befriedigende Antwort hatte er gedacht und gedacht, dass auf Malayalam das Schreiben und die Schrift ein und dasselbe Wort waren, und behielt es für sich.

 

Im Hinterland bleibt das Wasser aus, die Stille der Tonne, die Stille des Regensammlers.

 

Die WhatsApp seines Sohnes, dass er gut in Basel angekommen sei. Er wird ihn in einigen Monaten wiedersehen, wenn er in die Schweiz zurückkehrt, um sich um den dortigen Garten zu kümmern.

 

Er hebt einen Teil des abfallenden Rasens mit dem Spaten aus.

 

Er füllt die Grube mit dem Unrat der letzten Wochen. Den kaputten Fallen, Jutesäcken und dem beschrifteten Papier. Den Verpackungsresten, dem Karton und dem Kadaver der Fledermaus, es fehlt nur das Kreuz.

 

Wie Asche streut er die verdorrten Blätter des Jackfruitbaums über den Müll.

 

Er übergießt die Blätter mit Petroleum.

 

Er beginnt mit einer Plane zu wedeln, um den Brand zu beschleunigen.

 

Es wird ein Feuer geben und es wird Wind von der Küste geben.

 

Er weiß darum und gibt dem Feuer, was es braucht.

Der Rauch in seinen Lungen.

 

Später wird die Feuerwehr anrücken müssen.

 

Dann ist wieder Sonne.

 

Den Name läuten
Florencia del Campo
31.07.24

Aus dem argentinischen Spanisch von Ingeborg Robles

Es gab zwei Reihen und achtzehn Klingeln pro Reihe. Ein hohes, schmales, längliches Klingelschild. Kupferfarben, wie ein Armband für den Strand. Wie ein Halsband, wie Ohrringe. Zwei Reihen von Nachnamen und daneben der Klingelknopf, wie eine Ibuprofen. Eine Paracetamol. Wie die runden oder ovalen Dinger, die ich aus den Blisterpackungen drücke und runterschlucken kann. Eine Klingel wie ein Schmerzmittel. Ein Schild mit Klingeln, mit Gegensprechanlage, wie Medizin oder die Hoffnung auf Heilung.

Die Pünktlichkeit der Deutschen ist ein Klischee. Aber es stimmt. Auch ich bin pünktlich. Vielleicht verschafft mir das einen Platz in dieser dunklen Stadt, Akzeptanz. Ich bin pünktlich gekommen. Ich kann es nicht verhindern. Es gibt Latinas mit den Eigenschaften von Ausländern. Es war das erste Mal, dass ich ihn zu Hause besuchte, überhaupt das erste Mal, dass ich irgendwen in Berlin zu Hause besuchte. Bis dahin hatte ich mich immer in Bars oder Parks verabredet. Einmal vor einem Kino. Ein anderes Mal am Brandenburger Tor. Tore und Eingänge ohne Blister, anonyme Türen, gemeinschaftliche, touristische, historische. Keine Eigennamen, nichts Intimes.

Pünktlich stand ich vorm Hauseingang. Meine Hände zitterten. Ich war nervös. Es ist ein Klischee zu sagen, dass man nervös zu einer Verabredung erscheint. Aber so ist es. Zwischen den zitternden Händen hatte ich einen Weißwein. Roter ist ungenießbar. Ich bin eine Latina, die einen Malbec vermisst, einen Rioja, irgendetwas mehr oder weniger Hispanoamerikanisches. Weißen kriegen sie hin. Den akzeptiere ich selbst im Winter, auch wenn es mir lächerlich vorkommt, dass wir etwas so Kaltes trinken werden. Auf die Minute genau. Dem Eingang hingegeben.

Dieses Gebäude und sein Schild mit den zwei Klingelreihen und achtzehn Klingelknöpfen pro Reihe ist der Gemeinplatz der sechsunddreißig Personen, die hier wohnen, gemeinsam wohnen. Sechsunddreißig mindestens. Wie viele Personen leben in jedem Knopf? Sorry, in jeder Wohnung. In jeder Schmerztablette. Ist das Haus ein Heilmittel? Eine blonde Frau kam herunter, mit einem blonden Mann und einem blonden Baby. Ich strich über meinen schwarzen Zopf, während ich sie anlächelte. Nicht einmal Hallo konnte ich sagen. Alle meine Duolingo-Lektionen gerieten durcheinander, und beinahe hätte ich Tschüs zu ihnen gesagt. Ist die Familie, eine Familie zu haben, sie in der Nähe zu haben etwas Selbstverständliches?

Am Eingang zu Füßen der Angst. Wenn ich auf Deutsch grüße, bin ich genauso nervös, wie wenn ich eine Verabredung habe. Mein Akzent funktioniert nicht, ist eine ausgeschaltete Klingel. Ich sagte Tschau, ja, wer sagt denn, dass man Hallo sagen muss, wenn sie rausgehen. Sie haben mir nicht angeboten reinzugehen. Vielleicht wegen des Zopfs, wer weiß. Vielleicht nicht, nein. Jetzt war es nicht mehr auf den Punkt genau. Zwei Minuten, und ich hatte noch nicht einmal den Namen gesucht. Ich hatte mir nur die Hände getrocknet, die nass waren von der Flasche, die Wasser schwitzte, und ich hatte die Nachbarn gegrüßt, schlecht, ohne den richtigen Ton zu treffen, erfolglos, eine Fremde ohne Manieren.

Es ist ein Klischee, dass Berlin voller Ausländer ist. Aber Berlin ist voller Ausländer. Ich fing oben an. Drei spanische Nachnamen, zwei jüdische, vier deutsche, ein polnischer? Fünf italienische… Türkische. Tschechische. Russische? Ah, ein chinesischer. Oder vielleicht ein koreanischer. Ein japanischer. Nein. Ein vietnamesischer. Deutsche. Noch mehr deutsche. Wen suchte ich? Wie hieß er noch mal?

Einmal hatte ich mich vor einer spanischen Buchhandlung verabredet. Ein anderes Mal an einem U-Bahn-Eingang. Sogar vor einem Kiosk. Auf einer Klingel stand „H.M Off”, das konnte er nicht sein. Drei hatten den Nachnamen über dem Plastik kleben, sicher war darunter ein anderer Nachname versteckt. Hatte ein Umzug stattgefunden? Eine Trennung? Wie optimistisch zu glauben, dass der Wind, der Regen, die Unbill des Wetters diese neue Identität nicht hinwegfegen würde. Ein Zettelchen wie eine aus der Blisterpackung entfernte Tablette. Kurz davor, im Mund angefeuchtet zu werden. Auch wenn das Klingelschild im Hauseingang hängt, aber ich habe schon horizontalen Regen gesehen. An den Türen des Horizonts.

Natürlich kannte ich seinen Vornamen. Beim Nachnamen war ich mir, um ehrlich zu sein, unsicher. Ich konnte ihm eine WhatsApp schicken und fragen. Oder gleich sagen: „Hey, ich bin unten, mach die verdammte Tür auf.“ Ich konnte Tür sagen, ohne verdammte, ich konnte, noch konnte ich alles richtig machen. Ich wollte pünktlich sein, aber ich hatte bereits fünf Minuten damit verbracht, oberflächlich, zwischen den Zeilen, fast ohne den Text zu verstehen, die Identität der sechsunddreißig Familien zu lesen, die, wie betäubt oder unter dem Einfluss von Schmerzmitteln, ein Leben aufgebaut hatten, im eigenen Land oder in der Fremde. Und resigniert hatten.

Mach die Tür auf, komm schon, ich steh hier unten, die Hände frieren mir ab mit dem kalten Weißwein für diesen Winter, für dieses Treffen, für diese Hölle. An den Türen dieses Besuchs. Wie konnte es sein, mein Gott, wie konnte es sein, dass das deutsche System einen solchen Wahnsinn zuließ? Was war die Technik, die Methode, das System, das sie kannten und ich nicht? Eine weitere blonde Frau kam herunter. Ich sagte Hallo auf Deutsch. Ich löste meinen Zopf. Ließ mein Haar offen, wurde verrückt, dachte, von allen ausländischen Deutschakzenten ist meiner der Beste. Er erotisierte meine Sprache. Ich hasse Spanisch, meine Muttersprache, Mutter! Ich wollte die Klingel finden. Sie streicheln, bevor ich sie drückte. Und dann fest pressen wie eine Brustwarze. Sie verdammt noch mal endlich anfassen. Ich bückte mich und stellte den Wein auf die Schwelle. Zittern und Wahnsinn.

Ein System. Mein Gott, ein System. Es musste eins geben, ich kannte es nur nicht, niemand hatte es mir erklärt. Das deutsche System. In alphabetischer Reihenfolge. Unmöglich. Was sage ich denn da, also wirklich, und ich musste lachen. Wie sollte es denn alphabetisch sein, es war doch nach Wohnungen geordnet. Okay, was anderes. Wie schaffen sie es, pünktlich zu sein? Kalkulieren sie die Zeit mit ein, die sie brauchen, um den Namen auf dem Klingelschild zu finden? Ein Spiel, das man nur verlieren kann. Auf einmal fühlte ich mich sehr müde. Wie nach einer Niederlage. Nach einem Orgasmus. Mit feuchten Brustwarzen. Nach den Zuckungen. Ich wollte mich auf die Türschwelle setzen. Eine Müdigkeit, wie man sie im Flughafen spürt. Im Bett. Eine Art Warten auf den Himmel. An den Türen der Hölle.

Es ist ein Klischee, dass lateinamerikanische Frauen Zöpfe tragen. Es ist eine Lüge, ich trug noch nie einen Zopf. Weder in dieser Geschichte noch in sonst einer. Warum sollte ich mich indigenisieren, ich bin schließlich aus Buenos Aires? Als ich auf Deutsch Hallo sagte, habe ich zwar mein Haar berührt, das stimmt, aber mein Haar könnte sogar blond sein. Auf einmal kam die Familie zurück. Das Baby im Kinderwagen. Als sie hinausgingen, war da das Baby schon im Kinderwagen gewesen? Ich hatte nicht darauf geachtet. Ich musste aufstehen, um ihnen Platz zu machen. Ich schnellte hoch, als wäre ich schuldig, als müsste ich etwas wiedergutmachen, blitzschnell, wie eine Sprungfeder. Sie stießen den Wein um.

Name für Name, jetzt von unten nach oben: Keiner kam mir bekannt vor. Ich war tiefmüde, als hätte ich einen Angstlöser und Schlaftabletten genommen und danach noch Marihuana geraucht. Todmüde. Eine Blisterpackung mit einer anderen Medizin. Jetzt erinnerte es mich nicht mehr an Schmerzmittel. Alles war für mich auf einmal wie ein Beruhigungsmittel, etwas gegen Depressionen. Schlafen. Ich wollte einfach nur schlafen. Oder seinen Nachnamen kennen. Das ganze Gebäude kam mir vor wie eine Apotheke. Oder ein Wartezimmer im Krankenhaus. Und das Klingelschild waren die Ärzte, das Ärzteteam. Das gesamte deutsche Gesundheitssystem nur für mich. Ich brauchte ein Bett. Einen Spezialisten. Einen Spezialisten für das deutsche System. An den Türen der Notaufnahme.

Ein Krankenwagen fuhr vorbei. Kein Witz. Es geschah wirklich. Ich hob den Wein auf. Er war nicht zerbrochen. Er war kalt. Fing sein Nachname nicht mit P an? Mit T? Irgendwo kam ein Z vor. Davon war ich überzeugt. Ich konnte damit anfangen, alle auszulassen, die kein Z enthielten oder nicht mit Z begannen, denn Z war mit Sicherheit nicht der Anfangsbuchstabe. Ich überlegte, in eine Apotheke zu gehen, um braune Pflaster zu kaufen. Auf jeden Namen, den ich ausgeschlossen hatte, eins kleben, auf jeden, der nicht er war. Auf alle italienischen, zum Beispiel. Alle nicht deutschen: ausgelöscht, wegradiert, verwundet unter dem Pflaster. Verwundete Fremde, blutende. Ich schaute aufs Handy. Ich wollte wissen, wie viel Uhr es war und ob er mir geschrieben hatte, um zu fragen, warum ich spät dran sei. Ich vergaß, nach der Uhrzeit zu schauen. Er hatte mir nicht geschrieben. Ich öffnete Google Maps und suchte eine Apotheke. Auf einmal fühlte ich mich verrückt. Und sehr müde, schon wieder. Ich erinnerte mich, auf die Uhr zu schauen. Fünfzehn Minuten später als verabredet. Mir schien, als wäre schon die ganze Nacht vergangen. An den Türen des Wahnsinns.

Warum ging ich zu ihm nach Hause? Ich kannte nicht einmal seinen Nachnamen. Oder ich hatte ihn vergessen. Was für eine Frau war ich, dass ich an einem Winterabend mit einem Weißwein zum Abendessen zu einem Deutschen ging, an dessen Namen ich mich nicht erinnerte? Seine blauen Augen dagegen hatten sich mir nicht ausgelöscht. Ich schaute aufs Klingelschild, um zu sehen, ob es etwa auf einmal digital wäre, modern, futuristisch, mit den Gesichtern der Bewohner anstelle ihrer Namen. Das hatte ich nicht vergessen. Ein grauer Bart. Eine gerade Nase. Die Stirn breit. Was interessierte mich sein Nachname! Soll er heißen, wie er heißt.

Mein Telefon klingelte, und ich erschrak. Vielleicht machte ich einen Sprung nach hinten. Mit mehr Schwung als bei der Nachbarin. Störender als die Sirene des Krankenwagens. Es war meine Schwester aus Buenos Aires. Sie rief mich aus dem Sommer an und aus dem Nachmittag. Ich ging ran, aber ich sagte ihr klipp und klar, dass ich auf der Straße stand, im Dunkeln, mir scheißkalt war und ich zu spät zum Abendessen kam. Sie sagte, nicht so spät, nicht mal zwanzig nach acht, ob ich denn so früh zu Abend esse. Zwanzig nach? Ich schrie. Und jetzt war es mir egal. Unpünktliche Ausländerin.

Es ist ein Klischee, dass wir Latinas immer zu spät kommen. Ich war um Punkt acht da. Ich

kniete mich vor seiner Haustür nieder. Ich wollte, dass er mich in die Hölle schleift. Seinen Nachnamen nicht kennen, aber ihn danach fragen im Morgengrauen, ihn tausendmal anflehen, er möge ihn mir zuwispern, ihn mir bitte zuwispern, zuwispern. Jeder Nachname, wenn er nur von ihm käme, hätte mir gefallen. Ein türkischer, ein langer, ein kurzer, auch einer mit mehr als einem Z. Einem Y. Das gefällt mir am besten. Ein Umlaut, ein Akzent, den ich nicht auf meiner Tastatur habe. Wir würden damit spielen, seinen Nachnamen auf verschiedene Weise auszusprechen. Wir würden spielen, uns kennenzulernen. Unsere Namen zu kennen. Spitznamen zu erfinden. Uns zu rufen.

Was war der Trick, der Schlüssel, das Passwort, das System, die Methode? Die deutsche Erfindung. Ein Klingelschild mit den Namen aller, die in dem Gebäude wohnen. Und los geht die Suche. Klar, meistens sind es nur wenige Klingeln. Das hier aber war, wie wenn man auf Facebook surft, ohne zu wissen, wen man sucht. Wie die Gelben Seiten, ein Führer, der mich desorientierte. Ich rief ihn an. Ich fühlte mich tief-, tiefmüde. Als er antwortete, entschuldigte ich mich für die Verspätung. Welche Verspätung? fragte er. Er wusste nicht, dass ich mich verspätet hatte.

Auf dem Herd brutzelten Würstchen. Aus dem Computer kam englische Musik. Vor einem Fenster hing keine Gardine, vor zwei weiteren hingen weiße. Eins stand offen, obwohl es Winter war. Ich schloss die Augen. Ich fantasierte davon, ihn zu fragen, ob er eine Ibuprofen hätte oder Paracetamol. Meine Hände fühlten sich noch immer kalt an, sogar feucht. Der Körper zitterte. Die Nerven oder krank? Die Verabredung oder der Tod? Ganz einfach, ich war dabei, krank zu werden. Oder mich zu verlieben, man weiß nie. Wir witzelten viel darüber, wie es mir nicht gelang, auf den Klingelknopf zu drücken. Er fand es sehr merkwürdig, dass ich seinen Namen nicht gefunden hatte. Ich gestand ihm nie, dass ich ihn sogar vergessen hatte. Es amüsierte ihn, dass er runterkommen musste, um mir die Tür zu öffnen. Vielleicht küsste er mich deswegen sogar mehr. Ich fragte ihn nach dem System, nach dem am besten gehüteten deutschen Geheimnis. Er hörte meine Frage nicht, er rannte gerade in die Küche. Wir zogen den Korken raus; es kam mir vor wie ein chirurgischer Eingriff. Ich schaute in seine Augen: Sie waren grün. Ich dachte, vielleicht war auch sein Vorname nicht der, an den ich mich erinnerte.

Ich erwachte mit dem ersten Tageslicht. Ich hatte nicht erwartet, dass es Jalousien gäbe, nur, dass der weiße Stoff das Licht ein wenig filtern würde, aber das war nicht der Fall. Es ist ein Klischee, dass es in Deutschland keine Jalousien gibt. Aber es ist so, es gibt in Deutschland keine Jalousien. Ich griff nach meinem Handy und erinnerte mich warum: um auf die Uhr zu schauen. Viertel vor sieben. Was war dieses weiße Licht, das von der Straße hereinschien und mich hell ausleuchtete wie in einem Krankenhaussaal? An den Türen seines schlafenden Körpers neben mir. Auf einmal dachte ich, dass ich in seinem Bett nichts weiter war als die räumliche und dreidimensionale Verkörperung eines Namens auf einem kupferfarbenen Klingelschild drei Stockwerke weiter unten, im Erdgeschoss. Ich lag aufbewahrt in einem Klingelknopf. Wenn jemand nach mir suchte, musste er ihn drücken. Ganz weiß, ich, wie eine Ibuprofen- oder eine Paracetamoltablette, wie der Stoff der Gardine, der Morgen. Eine weiße Ausländerin. Und das Klingelschild kupfern, so kupfern, so weit unten. An den Türen des Strands, wie ein Traum. Ich nickte ein: Draußen in Berlin schneite es. Das war’s, nur das. Er flüsterte meinen Namen. Und auf einmal schien mir, dass so nicht mehr mein Name lautete.

Kolonialer Scheiß und der Rest der Welt
Danú Gontijo Bárbara Santos Suelen Calonga
31.07.24

Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Christiane Quandt

*Aus: GONTIJO, Danú, La viralización de la violencia: genero, medios, mimesis, reexistencias. 1. Ausgabe. Buenos Aires, Ed. Prometeo, 2023, S. 43-45.

Die koloniale Scheiße

Der Kolonialismus war ein riesengroßer Scheiß. Es hat nicht gereicht, einen Riesenhaufen auf Europa zu setzen, auch an anderen Orten der Welt musste nach allen Regeln der Kunst hingeschissen werden. Im Geiste einer Abenteurer-Entdecker-Erzählung, die bis heute fortbesteht, wurden Gebiete erobert und Völker unterjocht, ganze Ethnien ausgelöscht, Gemeinschaften auseinandergerissen, Menschen gefoltert, enteignet, zu Tausenden aus ihren Gebieten vertrieben, versklavt, Frauen vergewaltigt. Die Kolonisatoren haben sich die Reichtümer dieser Menschen angeeignet und den Kolonisierten ihre kolonialen Erzählungen und Sprachen aufgezwungen. Der Kolonialismus gehört nicht der Vergangenheit an. Lebendig, salonfähig und auf Hochglanz poliert kommt er daher. Das Koloniale und die Moderne: untrennbar (Quijano). Das größte antizivilisatorische Projekt überhaupt. Die Scheißhaufen werden Teil der Landschaft, genau wie die Reichtümer und Artefakte, denen die Kraft der Ahnen indigener Völker innewohnt und die heute europäische Museen schmücken. Manches stinkt ein bisschen weniger stark zum Himmel, wie etwa die unzähligen Beispiele von Alltagsrassismus in Deutschland, die Grada Kilomba in Plantation Memories aufzählt: infantilisierend und mit Tiervergleichen, verkleidet als Lob und guter Wille. Die Kontrolle von Körpern, Territorien und Narrativen verwandelt sich in Herrschaft, Politik und Profit. Eine spirituelle Kolonisierung. Wie sonst lässt sich die Tatsache deuten, dass ein europäisches Museum wie das Humboldt Forum, das im 21. Jahrhundert eröffnet wurde, heilige Objekte aus der ganzen Welt unter dem Symbol des Kreuzes in einem Haus verwahrt, das goldene Lettern mit folgendem Wortlaut zieren: „Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind. Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters“? Die kolonial-kapitalistische Ordnung der Moderne lebt fort und grassiert auf dem gesamten Planeten, unaufhörlich werden Peripherie und Exkremente produziert. Europäische Unternehmen verkaufen minderwertige Babyprodukte an den Rest der Welt. Pestizide, die in Deutschland verboten sind, werden von deutschen Unternehmen hergestellt, um den Rest der Welt zu vergiften. Im Herzen der kolonialen Moderne steht der Begriff race. Dieses Konzept erlaubt es uns, dem Faden aus vielen Erinnerungen zu folgen, die von den unzähligen Zäsuren des Kolonialen betroffen sind (Segato). Im Herzen der kolonial-kapitalistischen Moderne stehen Entmenschlichung und Rassismus, die Hand in Hand mit dem Patriarchat die Maschinerie des Othering am Laufen halten.

 

Der Rest der Welt

Der Rest der Welt ist im Grunde alles, was nicht Zentrum ist, und das Zentrum ist nur ein Punkt. Der Rest ist das, was übrig bleibt in einer Gleichung, die sich immer auf eine feste Referenzgröße bezieht. Es spielt keine Rolle, wie groß der Rest ist, ob er riesig ist oder sogar 99% von allem. Der Rest, das sind die anderen auf der Welt: von diesem angeblich hautfarbe- und race-freien Zentrum rassifizierte Menschen. Alle sind sie zu verabscheuenswürdigen Wesen gemacht worden, Frauen, trans Personen, Menschen mit Behinderung, Menschen mit abweichenden Sexualitäten. Der Rest, das ist die Bevölkerung des Sudan, die Bevölkerung Palästinas, die Bevölkerung des Kongo. Kuba und Haiti, Reste. Gaza, ein Streifen, ein Rest. Die Geographie des Melanins, Partikel einer besiegten Landschaft (Segato), die Verdammten dieser Erde (Fanon). Eine Landschaft aus afrikanischen, arabischen, asiatischen, lateinamerikanischen Menschen. Edward Said schrieb über die Erfindung des Rests, über die narrative Herstellung des Anderen, des sogenannten Orients durch den sogenannten Okzident: exotisch, irrational, unterlegen, weiblich. So dient der „Orient“ dazu, die politische und wirtschaftliche Agenda des Westens durchzusetzen. Dieser betrachtet die indigenen Völker als das Andere seiner Selbst, genau wie er die Frau als das Andere des Mannes betrachtet, die Emotion als das Andere der Ratio, den Körper als das Andere des Kopfes, die Natur als das Andere der Menschheit. Siehe auch das Phänomen der Feminisierung von Armut und die Hunderttausenden Föten, die weltweit nur aufgrund ihres weiblichen Geschlechts abgetrieben werden (Sen, Hvistendahl). Wenn der weiße Mann aus dem globalen Norden das Gesicht des Zentrums ist, dann ist die schwarze Frau aus dem globalen Süden das Gesicht der restlichen Welt. Sie ist das Gesicht des Rests.

 

Eine Restewelt bewahren

Die zehn reichsten Menschen der Welt vereinen auf sich ein Vielfaches des Einkommens der 3,1 Milliarden ärmsten Menschen (OXFAM). Die soziale Ungleichheit nimmt weltweit jedes Jahr zu und vervielfacht dabei die Reste. Die kolonial-kapitalistische Ordnung der Moderne produziert am laufenden Band Exkremente und verwandelt die Welt in einen offenen Abwasserkanal, der zum Himmel stinkt. Man scheißt auf den Planeten, man scheißt auf die Menschen, und alles nur, um den modus vivendi des globalen Nordens zu sichern. Wie also besteht und widersteht man als Rest in der Restewelt? Indem man reexistiert. Auf neue Weise existiert. Reste sind Dünger. Die Restewelt wird gedüngt von anonymen Frauen, die auf öffentliche Plätze scheißen. Und wir scheißen auf die kolonial-kapitalistische Ordnung der Moderne. Gedüngt von Marielle Franco machen wir aus den Opfern Dünger für unzählige Saaten. Gedüngt von Paulo Freire brechen wir mit der Faszination für Hierarchie, Zentrum, Spitze. Gedüngt von Angela Davis reichen wir allen unterdrückten Völkern die Hand. Gedüngt von Edward Said werden wir alle zu Palästina und vereinen uns gegen die Kriegsimperien. Gedüngt von Abdias do Nascimento gründen wir gemeinsam einen Quilombo. Gedüngt von Ailton Krenak lehnen wir das moderne westliche Paradigma ab, das indigene Kulturen mit ihren hochentwickelten Gemeinschaftsformen und dem harmonischen Zusammenleben von Mensch und Natur als primitiv ansieht. Gedüngt von Conceição Evaristo schreiben-leben wir unsere eigenen Geschichten, ohne uns auf eine einzige Erzählung reduzieren zu lassen, wie Chimamanda Adichie es ausdrückt. Wir werden mit dem Konzept der Ent-Wicklung brechen, wie es uns Nego Bispo lehrt, denn wir wollen uns ver-wickeln, Gemeinschaft weben, den Gedanken des Zusammenflusses umarmen: „Die Energie, die uns zum Teilen bewegt, zur Anerkennung, zum Respekt“, so schreibt es Rita Segato: „Die Leere des Lebens [in Europa] ergibt sich aus dem historischen Projekt Der Dinge, das im Gegensatz steht zum historischen Projekt Der Verbindungen. Ersteres schafft Individuen, Zweiteres schafft Gemeinschaften.“ Wir werden Yurugu besiegen und Maafa einsperren, wie uns Marina Ani aufzeigt. Gedüngt vom Zusammenfluss der kontrakolonialen Ideen werden wir die Rückkehr in die Zukunft erzählen, wie Aníbal Quijano es ausdrücken würde. Wir werden unsere Geschichte der Verbindungen zurückerobern, um neue Worte entstehen zu lassen: Kunst im Sinne von Abdias do Nascimento, ein Ereignis der Liebe, Verbindung und Integration unserer Gemeinschaften. Wir sind, was wir haben, nicht, was uns fehlt. Die Reste der Welt vereinen heißt eine Restewelt bewahren.

 

Eine Frau hat auf den Platz geschissen (danú gontijo)*

Eine Frau hat auf den Platz geschissen.

Feierlich hob sie den Rock und verrichtete wie die Hunde ihr großes Geschäft.

Vom Wohnzimmerfenster aus sah ich, was ich noch nie vorher gesehen hatte. Vom Luxus meiner bürgerlich blitzsauberen Zivilisiertheit aus. Und ich sah sie mit einem Eintopf aus Gefühlen: Fremdscham und Entrüstung, einer Prise Salz und Traurigkeit und einer Handvoll Wörter, die noch nicht erfunden wurden, um etwas auszusprechen, das nie übersetzbar sein wird.

Sie sah niemanden. Sie hob ihren Rock derart natürlich, ihren langen abgenutzten, zerschlissenen kürbisfarbenen Rock, die Haare grau und stumpf geworden von der Straße, und die Haut dunkel wie die einer armen Mexikanerin, alt, dreckig, stadtstaubbedeckt – Bewohnerin der Bürgersteige.

Und wohin scheißt, wer die Bürgersteige bewohnt? Ich, die denkt, dass sie viel nachdenkt, habe darüber noch nie nachgedacht.

Ich sehe das Bild auf dem Foto, das ich nicht gemacht habe: den Haufen an der Ecke des Blumenkastens, auf der linken Seite des Platzes, links von meinem Fenster, das in jenem Moment meine ganze Welt war.

Und ich zerdenke den Haufen der Frau, die auf der Straße lebt, ich reflektiere, wer einen Körper hat und vergesse dabei, dass ich selbst einen habe. Und ich vergesse, was leicht zu vergessen ist: So viele Menschen geben ihren Körper hin, damit Leute wie ich Thesen über die Welt aufstellen können. Wir, die wir uns ins Abstrakte flüchten, wie die umsichtige Clarice sagte, und die wir hinter verschlossenen, mit Lavendel besprengten Türen scheißen. Wir sind der homo academicus eines gewissen französischen Peter. Wir sind die Simone, die in ein Hotel zog, um weniger Körper zu haben und mehr schreiben zu können. Und das, obwohl ich mir vorstellen kann, welches Durchhaltevermögen Feministinnen wie sie haben mussten. Obwohl ich weiß, dass auch heute noch Frauen mehr Körper haben als Männer, zumal viele ihre berufliche Laufbahn aufgeben oder sich mit weniger angesehenen Positionen zufrieden geben. Frauen, die ihr Kind tragen, die waschen, kochen und nicht unbeschadet in ihrem Körper leben, nicht unbeschadet von dieser westlichen Abstraktion des vom Körper getrennten Subjekts. Als wären wir keine Menschen aus Fleisch und Flüssigkeiten und Exkrementen. Als wären Körper nicht materiell und – so lehrte uns eine gewisse Judith – als wären Körper nicht wichtig.

Es hätte auch ein Mann sein können, einer der vielen, die auch auf der Straße leben, aber es war eine Frau, die den Rock hob, sich nicht hinhockte, sondern sich bloß nach vorne beugte, wie wenn sich jemand verneigt, und die auf den Platz geschissen hat wie die feinen Rassehunde der feinen Leute, die dort herumflanieren.

Ein deutscher Peter, der über Zynismus schrieb, hat gesagt, dass aufgedeckte Wahrheiten uns mittlerweile nicht mehr bewegen, dass wir in einer Zeit leben, in der wir die Parabel der Ideologie eines anderen Deutschen namens Karl umkehren von „Sie wissen nicht, was sie tun, aber sie tun es trotzdem“ zu „Sie wissen, was sie tun, aber sie tun es trotzdem“. Anders als der Zynismus bei Diogenes, der im Kampf gegen die Heuchelei seiner Zeit sogar Platon verachtete und die Philosophie wieder verkörperlichte: Er entschied sich für ein asketisches Leben auf dem Platz, wie die Hunde, und er wurde häufig als Hund bezeichnet. Er hatte verstanden, dass es kunstvoller ist, seinen Lebensentwurf in die Tat umzusetzen, als bloß über eine gute Lebensweise zu philosophieren.

Wie eine moderne und weibliche Version des Diogenes von Sinope hat diese Frau auf den Platz geschissen. Ich weiß nicht, ob sie außer mir noch Publikum hatte, aber ich sah ihr zu, in Begleitung von Clarice und Simone, den beiden Petern und Karl und Judith. Ich, auch nur eine von uns, die wir denken, dass wir denken, die wir die Worte zu Kampfmitteln für eine gerechtere Welt weihen. Wie aber können wir unser Denken mit unseren eigenen Exkrementen verbinden und mit dem, was unsere Lebensweise auf der Welt an Dreck hinterlässt?

Diese Frau hat auf uns geschissen. Allerdings war das Scheißen der mutigen Bewohnerin der Bürgersteige keine Performance. Sie musste gerade scheißen, wusste nicht wo und hat einfach auf den Platz geschissen. Doch ein Gedanke springt mir immer wieder durchs Gehirn und beschäftigt mich seitdem: Zuerst haben wir auf diese Frau geschissen.

 

Der dekoloniale Scheiß (bárbara santos, inspiriert von danú)

 

Eine Frau hat auf den Platz geschissen. Geschissen!

Auf uns hat sie geschissen!

Für uns hat sie geschissen!

Sie hob den langen Rock, zerschlissen

abgenutzt vom Leben und sie hat ... geschissen!

Auf uns hat sie geschissen!

Für uns hat sie geschissen!

Der Haufen an der Ecke vom Blumenkasten,

Elend und Not, die auf der ganzen Welt lasten.

Für eine Sekunde ist die Zeit stillgestellt,

diese Frau und der ganze Rest der Welt.

 

Weisheit (suelen calonga, inspiriert von bárbara und danú)

Gegen den kolonialen Scheiß hilft wenn überhaupt, nur ein Guavenblatt

 

Der letzte Montano
J. A. Menéndez-Conde
31.07.24

Aus dem mexikanischen Spanisch von Johanna Schwering

Der letzte Montano ist eine postmoderne Geschichte über die Liebe in Form von Tagebuchnotizen. Der Roman beginnt in Guadalajara, wo Ignacio Montano sich von seinem Vater verabschiedet. Dieser hat das heruntergekommene Haus der Familie an seine ungeborene Enkeltochter vererbt, die Ignacio mit seiner Ehefrau Helga erwartet. Ignacio ist ein wenig produktiver Autor, der seit der Pandemie keine Aufträge mehr hat. Er kehrt nach Berlin zurück, wo er mit Helga lebt, und beginnt, ein Computerspiel mit dem Namen „Power Quest“ zu entwickeln. Während die Charaktere des Spiels Gestalt annehmen, merkt der Leser, wie eng diese mit dem Leben ihres Erfinders verknüpft sind, wobei die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen. So erweitern die Charaktere des Spiels die Haupthandlung um neue Dimensionen.

Es gibt nichts Schwierigeres, als ein Zuhause zu verlassen, in dem man gelitten hat.

„Ich hätte dich doch zum Flughafen fahren können“, sagt mein Vater von der Tür aus.

Dabei hat er gar kein Auto. Er hat es verkauft, um seine Schulden zu bezahlen. Er guckt an mir vorbei auf das wartende Taxi und wiederholt, dass er mich wirklich hätte fahren können.

Bevor ich den Rucksack schultere, umarmen wir uns. Ich lasse zuerst los und senke die Arme. Als ich nach dem Koffer greifen will, kommt mein Vater mir zuvor. Er will mir helfen. Darum bin ich nach Guadalajara zurückgekommen. Und darum fahre ich auch wieder.

Der Taxifahrer wartet hinter dem Steuer. Der Kofferraum ist offen. Als ich den Koffer reinheben will, hält mein Vater mich davon ab.

„Das ist doch sein Job“, sagt er und zeigt auf den Fahrer.

Ich sage ihm, dass das nicht nötig ist, aber er klopft schon vorne ans Fenster. Er lässt den Taxifahrer umsonst aussteigen, denn ich habe den Koffer schon verstaut.

Mein Vater sagt ihm, dass er über die Umgehungsstraße fahren soll, auf der Lázaro Cárdenas ist um diese Uhrzeit der Teufel los.

„Ich fahre die von Waze vorgeschlagene Route“, sagt der Taxifahrer und schließt die Tür.

„Sie sollten fahren, wie der Kunde es wünscht“, sagt mein Vater und hebt die Stimme. „Nicht, wie das Handy sagt.“

Er ist es gewohnt, zu bestimmen und das letzte Wort zu haben, mir die Fremdscham einzutreiben. Ich drehe mich zum Haus um, das alles ist, was meinem Vater noch bleibt, und das seit ein paar Tagen auf sein Drängen hin mir überschrieben ist. Die Dachziegel sind kaputt, die Fensterrahmen schief, und der weiße Fassadenanstrich ist rissig wie Eierschale. Die Eingangstür ist rott vor lauter Feuchtigkeit. Das Haus muss dringend renoviert werden. Mein Vater hofft, dass ich komme und mich kümmere, wenn er stirbt, dass ich das Haus auf Vordermann bringe und am besten gleich dableibe und wieder einziehe. Aber ich werde nie wieder hier leben. Es ist ein Ort voller herumgeisternder Gespenster, ein Haus, das ich immer bei mir trage, mein einziges Zuhause.

„Ich hätte dich fahren sollen“, sagt mein Vater schon wieder.

„Mit dem Fahrrad, oder was?“

„Quatsch, mit Onkel Rogelios Wagen“, sagt er. „Er leiht ihn mir immer, wenn ich ihn brauche.“

Rogelio ist nicht mein Onkel. Er ist ein langjähriger Freund meines Vaters. Sie haben sich im Rotary Club kennengelernt. Und sie sind Freunde geblieben, auch nachdem meine Eltern rausgeschmissen wurden, weil sie zu arm geworden waren.

Bevor ich ins Taxi steige, sage ich meinem Vater, dass ich einmal an Weihnachten gesehen habe, wie Rogelio meine Mutter bei uns im Bad gefickt hat.

Es ist schwer, dem Zuhause zu entkommen.

„Ach, Nacho, so ein Unsinn“, sagt mein Vater und fabriziert ein Lachen. „So weit ich weiß, ist Onkel Rogelio schwul. Das hab ich schon mehr als einen flüstern hören. Du immer mit deinen Geschichten, Sohnemann.“

Klar, ich liebe es, mir Geschichten auszudenken und meinen Vater damit zu quälen. Mein Gedächtnis ist allerdings auch ziemlich gut. Das Taxameter läuft schon, ich muss los, aber Abschied ist so anstrengend.

„Glaub mir, ich hab mich einmal an Weihnachten in der Badewanne versteckt und gesehen, wie dein Freund Mama am Waschbecken genagelt hat. Sein Schwanz war riesig.“

Mein Vater lässt die Arme sinken und guckt mich erschöpft an. Heute hat er keine Lust zu streiten.

„Ich will nicht das Bild von Onkel Rogelio und deiner Mutter im Kopf behalten, Gott hab sie selig. Ich will an meine Enkelin denken, okay? Dass alles gut geht bei der Geburt, wie ich mit ihr nach Sayulita an den Strand fahre und ihr die ersten Schwimmflügel kaufe. Dieses Haus will ich ihr vererben. Komm, Nacho, lass mir die Freude.“

Ich steige ein und lasse ihm die Freude. Zehn Stunden später bin ich in der Braunschweiger Str. 49 in Berlin, weit weg von meinem Vater. Und obwohl ich schon sechzehn Jahre am anderen Ende der Welt lebe, schleppe ich mein Zuhause auf dem Rücken mit mir herum wie ein Schneckenhaus, ein totes Gewicht.

Vor dem beschlagenen Spiegel im Bad wiederhole ich mir wie jeden Morgen, dass ich ein Schweineglück habe, noch am Leben zu sein. Vor achtunddreißig Jahren wäre ich bei der Geburt beinahe umgekommen, und mein Körper müsste eigentlich längst drei Meter unter der Erde verwest sein oder meine Asche feucht und moosbewachsen in einer Urne auf einem Kaminsims stehen, neben der meiner Mutter, im alten Haus meines Vaters.

Mein Name ist Ignacio Montano Ruiz. Nacho. Ich wurde am 16. März 1984 um 4:15 Uhr früh per Kaiserschnitt geboren, im siebten Schwangerschaftsmonat, und das hätte mein Ende sein können. Ich bin ein seltsames Wesen, der Mann/Junge, der sich an alles erinnert. Ich erinnere mich an jeden einzelnen der 93 Tage im Brutkasten, an die Gesichter, die hinter der Glasscheibe auftauchten und überprüften, ob ich noch lebte, an die Hände, die meinen Puls fühlten und die Sonden an meinen Handgelenken richteten, die mich ernährten, an die Nadeln, die mich stachen.

Ich erinnere mich an meine Beschneidung am 93. Tag nach der Geburt, nachdem die Ärzte mich entlassen und die Schwestern mich aus dem Brutkasten geholt hatten. Ich erinnere mich an die Brust meiner Mutter, aus der nichts herauskam, und daran, wie sie mich beim Stillen schreiend vor Schmerz löste, weil ich saugte wie ein liebeshungriges Tier.

Jahre später sprach ich mit meinem Vater über die Beschneidung. Ich sagte ihm, dass ich mich gut daran erinnern konnte, dass er es war, der mich ins Haus des Rabbiners trug. Ich erinnerte mich an den weißen Bart des Mannes. An den Stapel Geldscheine, den mein Vater ihm auf den Schreibtisch legte. Ich erinnerte mich an das kalte Skalpell, an mein Schreien und Weinen, an meine Unschuld und Wehrlosigkeit.

Mein Vater sagte, es sei unmöglich, dass ich mich an das Ereignis erinnerte, völlig unmöglich; dass meine Mutter mir davon erzählt haben musste, damit ich mich gegen ihn wendete. Aber meine Mutter hatte mir nicht davon erzählt, da war ich mir sicher. Ich wusste Dinge, die niemand mir hätte erzählen können, es hätte keinen Grund gegeben, einem Kind diese Dinge zu erzählen, erst recht nicht in jenen Zeiten.

Was ich von meiner Mutter verinnerlicht hatte, war das Mantra, das sie mir jeden Morgen zuraunte, eher bedauernd als stolz, am Tisch in der Küche, wo mein Vater uns das Frühstück servierte. Wir hätten beide bei der Geburt sterben können. Aber hier waren wir, gesund und munter, beim Frühstück mit meinem Vater. Und da sie außer Stande war, auch nur den abgenutzten Morgenmantel zu wechseln, den sie immerzu trug, sogar zum Schlafen, sollte ich die Welt verändern, zumindest ein bisschen. Zum Guten.

Ich wusste schon bald, dass ich keine Lust hatte, die Welt zu verändern, weder zum Guten noch zum Schlechten. Die Worte meiner Mutter weckten in mir von klein auf den Eindruck, dass die Welt mich nicht brauchte. Ich war überflüssig. Und ich wollte, dass meine Anwesenheit die Welt so wenig wie möglich störte. Ich war ein blinder Passagier auf einem Schiff auf dem Ozean, ein Eindringling, der nur in dunklen, mondlosen Nächten aus seinem Versteck kommen und durch eine Luke an Deck kriechen würde, um frische Luft zu schnappen. Ein Trittbrettfahrer.

Das Taxi Gottes

Es ist ein gutmütiges Lyriopisches Taxi, an dessen Steuer Gott glücklose Menschen vom Wegesrand rettet, und es ist einer der bekanntesten Mythen der zwölf Regionen von Power Quest.

Die Geschichten vom Taxi Gottes gehen fast 5000 Jahre zurück. Der erste schriftliche Beleg findet sich in der berühmten Autobiografie der tlönianischen Schriftstellerin Muriel Spark, die auf ihren Abenteuern in der ganzen Welt mündliche Überlieferungen aus allen Regionen sammelte. Die Geschichte, die in ihrer Biografie auftaucht, ist die verbreitetste Version des Mythos. Und wie alle Geschichten hat sie zwei Seiten. Muriel Spark versichert, dass im Kern der Geschichte nichts weniger als die Essenz des Glaubens an Gott verhandelt wird.

In Lyriopien wurden Kathedralen zu Ehren von Tomás errichtet, dem Heiligen, der durch das Taxi Gottes gerettet wurde und heute von der halben Bevölkerung verehrt wird. Die andere Hälfte glaubt nicht an den Wahrheitsgehalt des Mythos und meint, es handle sich um eine von der Kirche des Autos propagierte Täuschung. Sie erklären das Erscheinen des Taxis Gottes mit einem anderen Ende der Geschichte.

Eines dunklen und kalten Abends stand Tomás gepeitscht von einem Sturm am Straßenrand und versuchte zu trampen. Kein einziges Auto kam vorbei und der Wind pfiff schneidend. Der Sturm war so stark, dass die Sicht nur ein paar Meter weit reichte, aber hinter den dicken Tropfen, die auf den Asphalt prasselten, sah Tomás ein Auto langsam näherkommen.

In seiner Not stieg Tomás auf die Rückbank und schloss die Tür. Und dann bemerkte er, dass gar niemand hinter dem Steuer saß und noch nicht mal der Motor lief. Das Auto bewegte sich auf wundersame Weise vorwärts, als schwebte es. Vor ihm tauchte eine gefährliche Kurve auf. Tomás ergriff die Angst, er fürchtete um sein Leben. Aber kurz vor der Kurve erschien am Autofenster eine Frauenhand, die Hand Gottes, und riss das Steuer herum. Tomás, erstarrt vor Furcht und doch erstaunt ob des Wunders, beobachtete, wie die Hand immer dann erschien, wenn eine Kurve kam.

Nach einer Weile sah Tomás die Lichter einer Bar, sprang aus dem Auto und rannte zur Tür. Durchnässt und atemlos bestellte er einen doppelten Whisky. Dann erzählte er allen von dem erstaunlichen Erlebnis, das er gerade gehabt hatte. Er zitterte und weinte ergriffen, und alle lauschten ihm gebannt, als sie verstanden, dass er nicht betrunken war. Er war von Gott gerettet worden.

Und dies ist der Moment, wo sich Muriel Spark zufolge die Geschichte spaltet und die Version der Lyriopianer zu Tage tritt, die den Mythos für einen schlechten Scherz halten.

Zehn Minuten, nachdem Tomás von dem Wunder berichtet hatte, betraten zwei Frauen die Bar. Auch sie waren patschnass und atemlos. Sie guckten sich um und sahen Tomás an der Bar, heulend vor Ergriffenheit, und eine sagte zur anderen: „Laura, guck mal … das ist doch der Idiot, der einfach ins Auto gestiegen ist, als wir geschoben haben, und sich noch nicht mal bedankt hat.“

Die Tiere
Bruno Renato
31.07.24

Aus dem chilenischen Spanisch von Johanna Schwering

Das Land platt und groß die Ödnis der Hordentiere, die sich Schwestern nennen
sie schreien und schnauben und ritzen mit den Nägeln in die unleserlich tätowierten Ziegel
vergessen darüber die Namen und Stoffe, die sie für ihren Weg hielten
die Orte, wo sie sich endlich fallen und löschen lassen könnten, von den Gesichtern,
den lichtlosen Planeten auf den Häuten dieser Straßen mit ihren
an allen Ecken grasenden Mannsbildern
mit ihren Mannsbildern, die von ein paar Niemanden
jene Namen hören, die heute höchstens
nach diesen Tieren klängen, die zwischen den Krusten
himmelabwärts migrieren:
abwärts:

*

Da finden sich noch [Worte]
da finden sich noch Namen, wie angefressen vom Wind
[Te doro Schm dt, C bez , iebla]
vielleicht ein paar Hunde, die dem Pfiff folgen
Drähte, die den Strom über diesen Mauern rauschen lassen
zwischen denen man sich Straßen vorstellen kann
[und Leute an den Fenstern]
und mit der Zeit
                                                   Sedimente
und mit der Zeit Muskeln und Panzerglasfolien
                                     und so weiter;

Steppenland
Heidewüste;
der Nebel von Niebla zerfrisst die Bretter
und die Tiere rücken zusammen
um sich warm zu halten
                                      diese Erbse
ihr Pochen
ein Klumpen
             so
das schützende Knäuel aus Papier
             so
die Wärme halten

*
Die Wärme halten
weil wenn es draußen spuckt
und quakt
wenn draußen Hundemief
ein Haus, das sich biegt
und drinnen Arme, die drücken
weil ein Pfiff von Kabeln
von Dingen, die einnehmen ablecken inhalieren
Dinge auf dem Tisch
flackerndes Tageslicht, das durch die Rollläden dringt
und drinnen das Gehäuse der Höhlung beleuchtet
für diese Stummen, die den Albtraum hatten
uns hierherzubringen
den Albtraum, uns zum Wurf zu machen
um zu sehen, ob ihnen so ein Geräusch erwüchse
ein Mund zum Trinken
weil diese Angst vor dem Wind
wenn der Frequenzzähler versagt;

vor dem Wind
*
Der Sauerstoff entweicht
der Sauerstoff wird dünn
die Tiere wissen es schon
ihr saurer Speichel nimmt es auf
dieser gärende kranke Samen
widersetzt sich wohl
dem Blähbauch
der Taubheit auf dem Zahnfleisch ihrer Jungen
widersetzt sich wohl
dem verkrusteten Hauch der Heimat
dem Sand unter ihren Sohlen
*
Der Sauerstoff entweicht, der Sauerstoff wird dünn
der Sauerstoff wird von Mund zu Mund übertragen
den Kabeln entzogen;
der Sauerstoff
die Alten, die darunter leiden

und fensterinwärts ein paar Saure
etwas Marienspeichel, trocken

                                                              ein Kristallpopel zwischen den Nägeln
zitternde Klumpenwurzel im Zentrum

So weit, so gut

eine zweifarbige Taube auf der Brache
ein Fliegenschiss auf der Mauer, graue Ziegel in der Sonne
                                                             der Tau dieser Leitung;

So weit:
                                                                                              langsam neigen und schreiten die Dinge
                                                                                                           die Lebensmittel, die Mahlzeiten
                                                                                         zur Drainage; die zerbrochenen Krümel
                                                           spielen mit meinen Fingern
und im Mund das Knirschen einer Atmosphäre
als wären die, die an diesen Namen leiden
Cynthia, Salvador oder Renato
als wären sie noch hier

So weit:
Es ist bloß nichts
kann das noch steigern
die Kippen auf dem Teller

die Flecken auf dem Korb
der Klumpen
beinahe eine Kichererbse
die Faust, die ihn krumpelt
das Papier, das ihn festhält

diese Zellen
der Mond ist eine stille Welt

und das Fenster ein Durchbruch zur inwärtigen Stadt;

manchmal träumst du von ihr und weißt, wie sie endet
wie sie ausgeht                        Und zwar so:

du verirrst dich wie bei der Verfolgung eines Niemands und durchstreunst sie, bis du dich abhängst;
deine Sohle versinkt im Tümpel der Ch‘alla, im Sand, in der Kreide;
sie senkt sich und streift etwas wie einen Turnschuh,
den Sauerstoff wo zuvor ein anderer Fuß
eigentlich der Flügel deines Styroporflugzeugs
das man am Strand fliegen lassen kann
beim Durchwaten des Meeres
das du nicht mehr erkennst
das du nicht mehr hörst und nicht weiß, wer du bist
höchstens vage
die doppelten Himmel deiner Straßen
dieser Stadt, die in dir zusammenbricht:
so wie der Tag

Fernsehrauschen im Hintergrund

der Mond ist eine stille Welt

sein nuklearer Winter
der Sauerstoff
die Tiere, die ihn durchqueren

So weit, so gut:
          Das Haar hält die Fusseln sehr wohl in der Ecke: die Schritte folgen sehr wohl auf das Geräusch der Schritte
                                              auf den Nebel, der die Bierdose krönt
                                                             auf den Schluck, der sie leert
So weit;
Der Bauch dehnt sich und rutscht
                         und in seinem Tümpel planschen wir durch die Tage

und in seinem Tümpel die Lichtstunden
für diese Rückkehr:

ich allein
                      und der Stamm meiner Stimme

*

In den Wendungen der Alten, im flüssigen Gerücht ihrer Münder
sind die Stadt, die Nägel [und diese trockenen Viecher], die über sie wachen
nur die Nahrung, der schwarze Schlamm
der zu unseren Füßen wartet

In ihren Wendungen
liegen das andere Ufer und der Himmel eines Bildes;
die Ampeln, die verpflanzten Herden
tausende moosgeplagte Köpfe
der Verdammten dieses Südens

Und so fängt alles an
Mädchen schlägt Mädchen
Himmel klärt Himmel

Die Zukunft
María Cecilia Barbetta
31.07.24

Literaturhinweise

Das für die Erzählung ausschlaggebende Lovecraft-Zitat stammt aus: Geschichte des Necronomicons. Aus dem Amerikanischen von Malte S. Sembten. In: Howard Phillips Lovecraft: Chronik des Cthulhu-Mythos in 2 Bänden, hier: Band I, mit einem Vorwort und Erläuterungen von Marco Frenschkowski, Leipzig 2011, Seite 171–173, hier S. 172. Inspiriert ist Das Feld auch von: Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten in Chthuluzän. Aus dem Englischen von Karin Harrasser. Frankfurt am Main/New York 2018.

Die Erzählung There are more things, in die Jorge Luis Borges Lovecrafts archaische Cthulhu-Motivik miteinfließen lässt, ist Teil von: Jorge Luis Borges: Das Sandbuch. Aus dem Spanischen von Dieter E. Zimmer. München 1977.

Wie das Leben so spielt, war ich gerade bei meiner Familie in Argentinien zu Besuch, als mir die vielversprechenden Ankündigungstexte auffielen. Ausgerechnet eine Woche, nachdem ich gelandet war, sollte an der Universität von Buenos Aires ein vor fünf Jahren als Großprojekt konzipiertes und mehrfach verschobenes Symposium über die Causa der Phantastik nun doch noch stattfinden. Der ungewohnte Gebrauch des Wortes Causa in diesem Zusammenhang hätte mir vielleicht ein erstes Warnsignal sein sollen, doch ich ließ mich von der Schicksalsfügung mitreißen, und Berlin im Rücken wagte ich, mir das Glücksgefühl einzugestehen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu weilen.

Im Laufe der Tagung notierte ich mir wahnwitzige Erkenntnisse, zuvor nie aufgeschnappte Theorien über das Wesen der Phantastik. Am Schluss verordnete ich mir Entspannung im Freien. Es war Samstag und der Tigre, eines der beliebtesten Naherholungsgebiete der Hauptstädter, kein Geheimtipp. Vor allem am Wochenende zieht es Naturfreunde zum Delta des Paraná-Flusses hin. Nur meine kleine Schwester hatte sich damals, in den 1970er Jahren, beharrlich in Widerstand geübt. Im Vorfeld anvisierter Familienausflüge pflegte ich ihr von ausgehungerten Tigern und zähnefletschenden Jaguaren Kunde zu geben, die dort, wo wir hinwollten, auf alles lauerten, was einen zuckerigen Duft verströmte, ich erzählte ausufernd von schuppigen Krokodilen, die sich mit achtarmigen Kopffüßlern brutale Rangeleien lieferten, von glitschigen Seeungeheuern und allerlei Unterwasserkreaturen, die mindestens genauso wild waren wie meine Phantasie, so dass meine Schwester, der Hasenfuß, wenn es unsere Hippie-Eltern in den Dschungel trieb, auf das gemeinsame Abenteuer lieber verzichtete und den Wunsch äußerte, bei Oma und Opa zu bleiben. Daran musste ich nun denken, weil ich, Opfer kindlicher Gewissensbisse, damit liebäugelte, auf einer der Inseln einzukehren, auf denen es neben den schicken Restaurants auch die Yachtclubs mit Bootsverleih gab.

»Na, du?«, hörte ich plötzlich hinter mir.

Ich blickte über meine Schulter zurück. Da standen sie, dicht nebeneinander im Halbkreis aufgereiht, als würden sie mich abschirmen oder mir den Weg versperren: die Organisatorin der Tagung und ihre beiden Mitreferenten.

»Das gibt’s doch nicht!«, sagte ich.

»Oh doch, oh doch«, entgegnete die Organisatorin. »There are more things, wie du ja weißt.« Sie lächelte vielsagend. Ihre Erwiderung war nicht nur eine Anspielung darauf, dass es Bereiche gab, von denen sich unsere Universitätsweisheit nichts träumen ließ. Die englischen Worte waren zugleich, wie ich im Rahmen des Symposiums erfahren hatte, der Titel einer für Jorge Luis Borges ziemlich untypischen Geschichte, einer horror story, die der argentinische Autor nicht Shakespeare, sondern H. P. Lovecraft gewidmet hatte.

»Die Tagung war übrigens phantastisch«, sagte ich überflüssigerweise und kam mir im selben Augenblick recht besemmelt vor. »Wo wollt ihr denn hin?«, schickte ich hinterher, um von meiner unterkomplexen Bemerkung abzulenken.

»Nach Hause: zurück in die Zukunft.«

»Zurück in die Zukunft? Habt ihr drei die Zeitmaschine nachgebaut?«

»Wir haben das da aufgerüstet«, sagte die Tagungsorganisatorin und zeigte auf das Ufer. »Was meinst du, Freund, traust du dich mit aufs Boot? Ich sag’s lieber gleich: Bei uns gibt es keine Schwimmwesten.«

Dora war das Hirn. Sie war der Kopf des Ganzen. Sie hatte die Tagung maßgeblich gestemmt und steuerte nun das angerostete Boot, als hätte sie im Leben nie etwas anderes angestrebt. »Die Zukunft gehört uns allen«, unterrichtete sie mich, ohne den Blick vom Steuer abzuwenden. Ich nickte ihr zu. Das meiste, was Dora von sich gab, offenbarte früher oder später mindestens eine zweite Bedeutung. »Wir sind gleich da«, kündigte sie an, nachdem das Boot sich im gefühlten Zeitraffer an der Gesamtheit dessen vorbeigeschlängelt hatte, was mir aus dieser Gegend mehr oder weniger vertraut war: Sandstrände, motorbetriebene Tante-Emma-Läden, Paddel- und Ruderboote ... Sogar ein zerstochener aufblasbarer Schwan und ein herrenloser Puppenkopf trieben dahin ... Alles, was von einem Alltag in den Lagunen zeugte und sich an der Wasseroberfläche zu halten vermochte, versammelte sich irgendwann an den Ufern des Tigre, es verfing sich in der üppigen Vegetation, diesem engmaschigen Netz aus Schilf, Seegras und Hornblättern, und schaukelte anonymen Opfergaben gleich auf einem schwimmenden Voodoo-Altar hin und her.

Als ich meine Armbanduhr zu Rate zog, konstatierte ich mit Erstaunen, dass die kurzweilige Fahrt mindestens zwei Stunden gedauert hatte. »Ich bin noch nie so weit rausgeschippert«, gab ich treuherzig zu. »Weil du kein Inselbewohner bist. Die Linienboote chauffieren die Touristen bloß durch die erste Strecke des Deltas. Doch das wahre Delta, wo wir zu Hause sind, fängt jenseits davon an.« Dora war an Land gesprungen, um das Boot an dem Steg vor dem Haus festzuknoten. Ich hätte mich kneifen wollen. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Ich verfolgte hypnotisiert die Bewegungen des Wassers und hätte die Tiefe unter unseren Füßen nicht einschätzen können, denn das nasse Element hatte vor einer Ewigkeit die Farbe von Schlamm und Lehm angenommen.

»Kommst du endlich?«, rief mich Dora. Als ich den Blick hob, entdeckte ich das Willkommensschild an einem Pfeiler:

DIE ZUKUNFT

Die Hütte sah einsturzgefährdet aus. Der Anschein täusche, wurde mir versichert. Drinnen war es dunkel. Es roch muffig. »Die Feuchtigkeit kriecht einem in die Knochen, wirst sehen«, prophezeite Dora und schien sich mächtig darauf zu freuen. Wie die anderen typischen Konstruktionen in der Gegend, die – in Ufernähe errichtet – dem jährlichen Hochwasser zu trotzen hatten, stand die schlichte, heruntergekommene Cabaña auf Holzpfählen. Sie war dem Trio zusammen mit dem vorsintflutlichen Boot hinterhergeschmissen worden. Sie hatten beides vor fünf Jahren erworben, dank der Forschungsgelder, die schließlich auch die Tagung ermöglicht hatten.

»Mo-ment, Mo-ment, falsch gedacht«, tadelte mich Dora, obwohl ich nichts gesagt hatte. »Keine Veruntreuung, mein Freund! Die Causa der Phantastik ist ein Großprojekt. Das Kuratorium empfiehlt Verschwiegenheit, aber soviel kann ich dir verraten, Kollege: Nicht in der Stadt, sondern hier, bei uns in der Zukunft, spielt die Musik.«

Ich hatte nichts beanstandet und fühlte mich deshalb unberechtigterweise angegriffen. »In dieser Ruine?«, konterte ich.

»Diese Ruine, wie du sie nennst, ist unser Hightech-Labor. Wart mal ab. Du warst noch nicht auf dem Feld.«

»Auf dem Feld?«

»Hinter dem Haus.«

»Hinterm Haus?«

»Drüben haben wir einen Extrabereich angelegt, in dem wir uns regelmäßig austoben. Jenseits. Außerhalb deiner eingerosteten Vorstellungskraft.«

»Verstehe.«

»Was du nicht sagst, Großmaul«, tadelte Dora und wischte mir mit der Hand die Luft vor der Nase weg.

Alraun, erklärte mir Dora, habe sich aufgrund seines grünen Daumens für das Anbauen qualifiziert. Alraun hatte verfilzte Haare, auf die er sich mächtig was einbildete. Alraun war der Spitzname von José María, der den zweiten Tag der Konferenz mit ziemlicher Eloquenz bestritten hatte. Als Dora ihn anblickte, wurde er rot wie eine Tomate. »Zeig ihm ruhig unser Experimentierbeet«, instruierte sie, »nur keine Scheu.« Wir gingen um das Haus herum. »Das ist die Stelle«, behauptete Alraun. Ich schwieg. Ich sah gar nichts außer einer Parzelle angefeuchteter, frisch gedüngter Erde.

»Heute Abend wird sich zeigen, was die Zukunft bringt ...«

Da ich Dora, die mich zu ihnen nach Hause eingeladen hatte, nicht brüskieren wollte, schauspielerte ich Interesse: »Was hast du ausgesät?«

»Nichts Außergewöhnliches«, antwortete Alraun, doch ich merkte, wie er vor Stolz fast platzte. »Ein bisschen Katzenminze ...«, behauptete er und wies mit der Hand großspurig auf das Nichts hin, »Hundsrose, Hasenklee, Bärlauch und Bärenklau ...« Er drehte sich wie ein Windrad in sämtliche Himmelsrichtungen. »Hahnenfuß, Wurmfarn, Waldvöglein – ein bleiches, ein rotes, ein schwertblättriges –, Mäusegerste, Schafgarbe, Löwenmäulchen und Löwenzahn, eine Handvoll Gänseblümchen, etwas Krötenlilie, Tigerstern vor allem ...«

»Natürlich, alles jedoch zu seiner Zeit ...«, pflichtete Antonia bei, die sich bis zu diesem Augenblick vollkommen zurückgenommen hatte, als wäre auch sie unsichtbar.

Niemand anders als Antonia habe die Zukunft auf Vordermann gebracht, erklärte mir Dora, als unsere Mägen knurrten und wir auf der Suche nach Lebensmitteln wieder hineingingen. Antonia stammte aus einer Familie von Mathematikern, polyglotten Ingenieuren und Tüftlern. Antonia hatte sowohl die elektrischen als auch die sanitären Leitungen verlegt. Antonia war außerdem die geborene Leseratte. »Frag sie irgendetwas«, forderte Dora mich auf, ohne mir die Gelegenheit dazu zu bieten. Dora hatte Antonia auf Lovecraft angesetzt, und weil sie angebissen hatte, mit der Causa vertraut gemacht. Mit welcher Causa bloß?, hätte ich gern erfahren, wollte aber nicht den Anschein erwecken, ich kennte die Hintergründe nicht.

Einmal in das mysteriöse Etwas unterwiesen, hatte Antonia darauf bestanden, sich Tulu zu nennen. »In Anlehnung an Cthulhu, du verstehst«, unterstrich die Eingeweihte, und ich erlaubte mir, ihrem prüfenden Blick auszuweichen. Tulu habe ihre Mission gefunden, wie Dora verriet. Tulu, eine hartgesottene Idealistin, wollte das Land ihrer Vorfahren zu einem besseren Ort machen. Nach dem Ende der Utopien wollte Tulu dafür Sorge tragen, dass aus dem fetten Minus der Vergangenheit ein mindestens genauso beachtliches Plus der Gegenwart würde. Der erste Schritt war getan. Der große Auftakt der Causa war Geschichte. Die Eingebung hatte selbstverständlich Dora gehabt. Von ihr stammte die umwälzende Idee, aber es lag an Tulus Geistesgegenwart, an Tulus besonderen Fertigkeiten, das Necronomicon ausfindig zu machen und es in ihren Besitz zu bringen, ohne Spuren zu hinterlassen. In der totalen Umkehrung seiner Lehren würde das Trio in der Zukunft Feldforschung betreiben. Das war der Masterplan. »Ein Diebstahl für den höheren Zweck. Also kein Diebstahl«, stellte Dora klar.

»Die Menschen lassen sich allzu gern täuschen«, behauptete Alraun. Ich ertappte ihn bei dem Versuch, sich mit der freien Hand lässig über die Haare zu fahren, doch bei dem Gestrüpp kam er nicht wirklich weit. Ich hatte den Eindruck, dass Alraun als einziger über meine Anwesenheit in der Zukunft nicht erfreut war. Das war verständlich, denn ich war ein Konkurrent, ein starker Rivale. Bis zu meinem Aufkreuzen hatte er Dora und Tulu für sich allein gehabt. »Menschen verlieben sich in das Ausgedachte«, hörte ich ihn dozieren. »Aus diesem Grund greifen sie zur Literatur.« Alraun legte eine professorale Pause ein, bevor er fortfuhr. »Lovecraft gelang es meisterhaft, wirkungsmächtige Lügen-Konstrukte hervorzubringen. Auf die immer wiederkehrende Frage seiner Briefpartner, was es mit dem Necronomicon auf sich habe, hatte der Autor jedes Mal beteuert, das blasphemische Buch, auf dem der von ihm beschriebene Cthulhu-Kult beruhe, sei reine Erfindung. Was sagt uns das?«, inquirierte Alraun und schaute mich herausfordernd an. Mit seiner Symposiums-Rhetorik begann er mir langsam auf die Nerven zu gehen. »Die Fans vertrauen Lovecraft blind. Anders Dora«, rief Alraun mit übertriebener Bewunderung aus. Das Necronomicon, versicherte der Besserwisser, hätten sie stets vor der Nase gehabt.

»Man hätte die Hand danach ausstrecken können«, bestätigte Tulu und griff nach einem Sammelband, auf dessen Cover eine Bestie, ein Riesenoktopus von humanoidem Aussehen, prangte, einer Cthulhu-Chronik, die, obwohl neueren Datums, auseinanderzufallen drohte. »Pass auf,« murmelte sie, »hier steht«, und sie zitierte: »Von den noch vorhandenen lateinischen Versionen des Necronomicons wird eine aus dem 15. Jahrhundert vom Britischen Museum unter strengem Verschluss gehalten, eine andere aus dem 17. Jahrhundert liegt in der Bibliothèque Nationale in Paris. Jeweils eine weitere Ausgabe aus dem 17. Jahrhundert befindet sich in der Widener Library in Harvard, in der Bibliothek der Miskatonic University in Arkham und …« Und nichts, denn Tulu pausierte theatralisch. Sie war offenkundig aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Alraun.

»Ja, mein Gott! Und weiter?« Ich kam mir wie ein Bettler vor.

»Und«, setzte Tulu seelenruhig die Lektüre fort, »in der Bibliothek der Universität von Buenos Aires. An unserem Tagungsort«, ergänzte sie und seufzte.

»Nein, oder?«

»Richtig, Junge, nein«, spöttelte Dora. »Ganz und gar nicht mehr. Die Übersetzung des berühmt-berüchtigten Necronomicons, von der in dieser Schwarte die Rede ist, haben wir inzwischen übergesetzt. Unser Boot kennst du ja. Die monströse Inkunabel, die Rarität, die angeblich dem Reich der Vorstellungskraft entstammen soll, befindet sich nicht länger auf dem Festland, sondern bei uns in der Zukunft.«

»Dora ist Gold wert«, konstatierte Alraun und puffte mich mit dem Ellenbogen in die Seite. »Tulu aber auch. Unsereins könnte neidisch werden, Mann. Mit einem Stück Draht kann Tulu jede Bibliothekstür aufschließen, sie kann in Sekundenschnelle Geheimcodes knacken, Schließfächer entriegeln und Spaghetti-Bolognese-Dosen ohne Öffner aufbekommen. Hermetismus ist für Tulu ein Fremdwort.«

Weil alles um mich herum erneut schwieg, warf ich die Frage auf, die mich arg beunruhigte. »Habt ihr das verbotene Necronomicon gelesen, ich meine die Beschwörung der Toten und der im Urgrund lauernden Dämonen...?«

»Was glaubst du, amigo, was wir hier draußen auf Fantasy Island veranstalten? Du glaubst doch nicht allen Ernstes«, sagte Alraun, »dass die Lektüre eines okkulten Kompendiums einen in den Wahnsinn treiben oder gar tödliche Auswirkungen haben kann, weil es so geschrieben steht?«

»Und wenn schon: Verbote sind dazu da, überschritten zu werden, du Memme. Frag Tulu: Es gibt keine Bücher mit sieben Siegeln!« Dora hatte sich wieder eingeschaltet. Ich hatte an ihr einen Narren gefressen, von Anfang an, um ehrlich zu sein, und so hatte ich mich während der Tagung mächtig ins Zeug gelegt. Ich war bestrebt gewesen, mich mit klugen Zwischenkommentaren bemerkbar zu machen, aber nach dieser eher traurigen Performance im Tigre räumte ich mir kaum Chancen bei ihr ein.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Tulu, schlagartig gelangweilt.

»Die Nacht herbeisehnen, Darling. Komm her, meine Süße, bisou«, sagte Dora und küsste Tulu zart auf den Mund. »Wir warten die Dunkelheit ab und hören dann das Gras wachsen, einverstanden?«

Die Ruhe im Tigre war zu dieser Uhrzeit gespenstisch. Der Mond leuchtete uns den Weg, als wir das Haus verließen, um in den Garten zu gehen. Als gäbe es was zu feiern, hatte Dora sich auf eine unaufgeregte Art zurechtgemacht. Sie hatte die Sandalen abgestreift, trug die langen, glatten Haare offen und eine weiße, recht durchsichtige Tunika. Sie sah atemberaubend aus. Sie kam mir vor wie eine erfahrene Priesterin bei der Ausführung eines heidnischen Ritus, als sie uns ein Zeichen gab, es ihr gleichzutun, die sich als erste auf der feuchten Erde niederließ, auf derselben Fläche, die Alraun bepflanzt hatte. Wir bildeten einen Kreis, kreuzten die Beine und fassten uns an den Händen. Zu meiner Linken saß Dora, rechts von mir Alraun, Tulu mir gegenüber. Wir schwiegen andächtig. Die Gruppe hatte sich vorgenommen, die Differenzen des Tages hinter sich zu lassen. Wir wollten uns keine Schlacht mehr liefern. Ab sofort ging es nur noch um die Zukunft. Es ging um das Feld und unsere Forschung. Das Feld sollte sich manifestieren. Das Feld sollte mit jedem angestrebten Versuch plastischer, doch auch sinnlicher werden. Ich sollte dabei helfen. Ich sollte meinen Teil zu der Causa beitragen. Fortuna hatte ihre Hände im Spiel und meinte es gut. Wir wollten zusammenkommen, damit das Feld Gestalt annahm. »Eine Kraft namens Love«, rief Dora pathetisch, und ich spürte, wie ergriffen ich war. Love-Kraft. Ich schwitzte. Es roch süßlich, und mir war es peinlich. Ich bemühte mich, wieder normal zu atmen. Neben mir warf Doras Umhang silbern schimmernde Falten, ein flirrendes Labyrinth aus Kanälen, verschlungenen Pfaden und Flussarmen. Mein Herz pochte. Mein Blut raste durch meine Adern. Ich zitterte wie Espenlaub. Ich hatte meine Hände schwer unter Kontrolle. »Nicht loslassen«, befahl Dora energisch, »wir kommen jetzt in Fluss.« Und so war es auch. Als sie das sagte, hörte ich das Gras wachsen. Buchstäblich. Ich hörte jeden einzelnen Halm unter uns aus dem Nichts sprießen und in Lichtgeschwindigkeit zur sattgrünen Landschaft werden. Das, was auf dem Feld vorging, lässt sich schwer mit einem Wort beschreiben. Man wäre gezwungen, ganze Bibliotheken zu füllen. Während diese Überlegung in mir aufkeimte, entstanden auf dem Feld Löwen aus Zähnen, Kröten verwandelten sich in Lilien, alles war ein Blühen und Gedeihen von Gänsen; über uns schwebten die Tiger um die Sterne. Meine Lippen schmeckten salzig. Flutartig liefen mir die Tränen über die Wangen. Von grenzenloser Dankbarkeit überwältigt schaute ich Alraun an. Jetzt, wo zwischen uns Frieden herrschte, hatte er den Pferdeschwanz gelöst, seine Prachtmähne lag ihm flauschig auf den Schultern. Das Feld veränderte alles, was mit ihm auf die eine oder andere Weise in Resonanz trat. Die Konturen der Realität wurden durchlässig, bis die Demarkationslinien zwischen den Dingen verschwammen, und auch ich löste mich von den Fesseln des Geistes und somit der Materie, ich schüttelte alles Einengende von mir weg; eine tiefgehende Transformation war im Gange, ich hörte auf, ich zu sein, und schaute von der Erfahrung elektrisiert, zu meiner Linken, zu Dora herüber, ich heftete meinen Blick auf diese eindrucksvolle Frau und wurde selbst zu ihr, der Ideengeberin hinter der Causa, ich höchstpersönlich war die Wegbereiterin, die Antonia und José María ins Boot geholt hatte, die Triebfeder, die die Aushänge für die Tagung angebracht hatte. Ich war der Motor, das Denkorgan, der Spiritus Rector des Ganzen. »Alles fließt«, hörte ich mich skandieren. Im Dunstkreis des Feldes – kraft der ausgelösten Kettenreaktion – war ich Dora, und Dora war inzwischen Tulu geworden, Tulu Alraun. An diesem Punkt angelangt, ließ sich unklar feststellen, wessen Verschulden es war. Schwer, ja, unmöglich zu sagen, ob Alraun die Hand zurückgezogen hatte oder ich. Der Kreis war plötzlich gesprengt, das Feld außerplanmäßig unterbrochen.

»Was ist los?«, fragte Tulu verärgert.

Das Feld war noch nie ohne Vorankündigung, nie ohne das Einverständnis der anderen verlassen worden.

»Wo ist denn unser Besuch abgeblieben?«, erkundigte ich mich erschrocken.

»Welcher Besuch?«, fragte Alraun zurück.

Mir lief es eiskalt über den Rücken. »Der argentinische Gast aus Deutschland. Diese Klette, die sich uns heute Morgen angeschlossen hat.«

»Dora, Sweetheart«, sagte Tulu und klang, als spräche sie zu einem Kleinkind, »was meinst du?« Sie lächelte mich sanftmütig an. »Du weißt doch, dass wir niemanden mit in die Zukunft nehmen. Aus Prinzip nicht. Wir sind mit unseren delikaten Forschungen leider noch nicht so weit fortgeschritten, um unsere Runde Fremden gegenüber zu öffnen. Die goldene Regel hast du aufgestellt, Doraherz. Erinnerst du dich?«

»Ja, ja, so ein Blödsinn! Ich kann mich aber an den Kerl erinnern. Eine Eintagsfliege, von mir aus, ein Maulwurf; trotzdem war er mit von der Partie ...«

»Du lügst uns ins Gesicht, doch niemand glaubt dir, Schatz. Nach dem Ausrutscher von vorhin scheinst du außerstande, zwei und zwei zusammenzuzählen. Wir sind doch drei, Dora, und dabei bleibt es, bis auf weiteres zumindest«, sagte Alraun und streckte die Arme wie Tentakel aus. Ehe man sich’s versah, zog er eine schnell wiederhergestellte, sichtlich vergnügte Tulu an sich und steckte ihr und anschließend mir die Zunge in den Mund.

„Früher oder später können wir alle am kulturellen Extraktivismus beteiligt sein“
31.07.24

Gespräch mit der mexikanischen Schriftstellerin Cristina Rivera Garza über ihr Verhältnis zu Berlin, die lateinamerikanische Literaturszene und den Latinofuturismus

Das Interview führten Timo Berger und Douglas Pompeu.

 Cristina, wie war dein Bild von Berlin, bevor du hier gelebt hast?

 Ich war schon vorher oft zu Besuch in Berlin. Deshalb ist mein Bild von Berlin, bevor ich hier gelebt habe, im Laufe meiner zahlreichen Besuche entstanden. Aber eigentlich war es das Produkt von Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin und dessen Fortsetzung In weiter Ferne, so nah! Dazu kam das Interesse meines Vaters für alles, was deutsch ist – das romantische Empfinden lag sozusagen in der Familie.

 Warum hat sich dein Vater für Deutschland interessiert?

Mein Vater ist Agrarforscher. Und Kartoffelforscher. Es gab also immer eine Verbindung, einerseits wegen seines Forschungsinteresses, andererseits wegen mir, der deutschen Literatur, dem deutschen Kino.

In Wim Wenders Filmen, die du erwähnt hast, wird ein Bild vom geteilten Berlin gezeigt, mit vielen sinnlosen Leerstellen oder Brachen. Inzwischen lebst du seit fast anderthalb Jahren in der Stadt und bist auch mit deinem Kiez vertraut. Wenn du die Bäckerei betrittst, wirst du auf Türkisch angesprochen. Hat sich dein Bild von Berlin in dieser Zeit verändert?

Bevor ich diese Frage beantworte, muss ich etwas sagen, was mit dem Berlinbild in Der Himmel über Berlin zu tun hat. Als ich mir den Film hier noch einmal angesehen habe, fiel mir nämlich auf, wie sehr ich es mit meinem Bild von Mexiko-Stadt verknüpft hatte, wo ich damals gelebt habe. Dort gibt es ebenfalls viele Brachflächen, viele Lücken mit Wildwuchs.  Das heißt, zwischen Mexiko-Stadt und Berlin gibt es eine sehr organische Verbindung. Und ja, hier zu leben ist wie immer, wenn man irgendwo lebt: Die großen Attraktionen werden weniger interessant, weil man sie schon kennt, stattdessen geht es ums Erleben des Alltags. Am meisten beeindruckt mich, wie einfach es ist, sich in Berlin zu fortzubewegen. Ich komme aus den USA, wo es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt, niemand geht zu Fuß, und Kinder haben in der Öffentlichkeit keinen Platz zum Spielen. Dass ich in Berlin so viele Kinder auf der Straße und allein in der U-Bahn sehe, sind Dinge, über die ich immer noch staune.

Glaubst du, dass es von Lateinamerika aus eine Annäherung an Berlin gibt?

 Aber ja. Es hat mich sehr überrascht, auf eine so starke lateinamerikanische Community zu stoßen. Das ist keine Einbildung, sondern Tatsache. Besonders stark ist die Präsenz lateinamerikanischer Dichter. Eine meiner ersten Unternehmungen war der Besuch einer Lesung der Reihe „ex/salón“ im Salón Berlinés, und seitdem habe ich Kontakte zur lateinamerikanischen Lyrikszene. Wenn ich an meine Zeit an der Universität zurückdenke – die Fassbinder-Filmreihen, sämtliche Filme von Herzog und viel Literatur –, da war, glaube ich, schon diese sehr literarische Verbindung und die Verbindung durch Kino und Kunst. Und untrennbar damit verbunden die Reflexion über Gewalt und Krieg.

 

Wenn wir die Beziehung aus der anderen Richtung betrachten, stoßen wir auf etliche deutsche Reisende – der bekannteste ist sicherlich Humboldt –, die mit Kunstgegenständen, Geschichten, Wissen, Tonaufnahmen aus Lateinamerika zurückkamen. Und all das befindet sich heute in Berlin. Wie siehst du Berlins Rolle in Bezug auf das hier angesammelte lateinamerikanische Kulturerbe?

 Wir führen bereits eine große Debatte über die Rolle der Museen, aber auch anderer Kulturinstitutionen und sogar innerhalb der Literatur- und Lyrikproduktion. Ich denke, dass wir diesem Thema sehr viel Aufmerksamkeit widmen müssen. Denn es ist Teil eines weiter gefassten und andauernden ökonomischen Geschehens. Und wer sich beispielsweise dem Schreiben widmet, sollte sich mit dieser Frage konfrontieren. Früher oder später können wir alle am kulturellen Extraktivismus beteiligt sein. Am wenigsten erfreulich und produktiv scheint mir allerdings eine identitäre Antwort zu sein. Also wenn es heißt, eine Person müsse bestimmte Eigenschaften besitzen, um sich mit Thema A oder B zu beschäftigen. Wenn nur Frauen über Frauen sprechen sollen. Das lässt sich bis ins Lächerliche steigern: Wir werden nie über das Rom des 12. Jahrhunderts sprechen, weil wir weder Römer sind noch im 12. Jahrhundert leben. Ich karikiere jetzt, aber es geht mir ums Extrem.

 Was schlägst du stattdessen vor?

 Wir sollten uns weniger auf Identitäten als auf Erfahrungen berufen und die konkrete strukturelle Basis, den Prozess der Anhäufung und Zerstörung infrage stellen. Beim Schreiben arbeiten wir immer mit den Erfahrungen anderer, daraus mache ich mein Buch oder meinen Text. Um eine unreflektierte Aneignung zu vermeiden, ist Vorsicht geboten. Mit dieser Frage habe ich mich in einigen meiner Bücher beschäftigt und dabei ein anderes Konzept thematisiert, nämlich das der Entäußerung. Damit meine ich, in meinem Text die Erfahrungen anderer sichtbar zu machen. In Schreibwerkstätten heißt es manchmal, man dürfe die Nähte eines Textes nicht zeigen. Die Entäußerung ist ein Aufruf zum Gegenteil, also auf eine ästhetisch relevante Weise die Erfahrungen und Spuren anderer in meinem Schreiben zu zeigen.

 Welche Strategien oder Methoden verwendest du dafür?

 Es sind immer Prozesse des Nachforschens und des Neuschreibens. Mich interessiert weniger der Blickwinkel der Anekdote, des Plots, sondern vielmehr die materielle Einarbeitung. Die Erfahrungen an sich. Ich gehe viel in Archive, mache Feldforschung, Interviews. Für Autobiografía del algodón (auf Deutsch etwa: „Autobiografie der Baumwolle“) zum Beispiel war ich auf der Suche nach der Migrationserfahrung meiner Großeltern an der Grenze zwischen Mexiko und den USA und habe so viel Archivmaterial verwendet, wie ich nur konnte. Das Buch enthält Telegramme, die ich direkt aus dem Archiv übernommen habe. Und wenn das Archiv nicht ausreicht – was es nie tut, da es per definitionem unvollständig ist –, hilft mir die Fiktion, Brücken zu schlagen.

 Wie ist es, in Berlin zu schreiben? Glaubst du, die Stadt wird dein Schreiben verändern?

 Wenn ich im August abreise, werde ich eineinhalb Jahre hier gelebt haben. Davon ein halbes Jahr außerhalb der Stadt, in der Nähe der Villa am Großen Wannsee, in der über die grausame „Endlösung“ beraten wurde, und ein Jahr in Schöneberg. Und weil ich in dieser Zeit sehr viel geschrieben habe, habe ich mir diese Frage schon oft gestellt. Zum Teil ist die Antwort vielleicht pragmatisch, weil ich mich außerhalb meiner Universitätsroutine – Lehre und bürokratische Pflichten – ganz auf das Schreiben fokussieren konnte. Dank der schon erwähnten Fortbewegungsmöglichkeiten war ich an Orten Berlins, die mich sehr interessieren. Aber ich war nicht in Archiven. Ich war hier und habe Dinge gesehen, aber mein Schreiben ist jetzt weniger auf diese Art von Forschungsarbeit fokussiert. Ich glaube, dass ich Material für zukünftige Projekte gesammelt habe. Aber aus irgendeinem Grund habe ich wohl gerade ein Buch zu Ende gebracht, das ich am Wannsee begonnen habe, ohne dass ich mir vorgenommen hatte, es zu schreiben. Es sind Erzählungen über Reisen, aber Reisen über Land. Vielleicht hat es mit dem ständigen Kontakt mit der Stadt zu tun, mit dem Erdboden, dem Territorium, dass ich mich diesem Thema zugewandt habe.

 Könntest du uns ein Beispiel für eine dieser Reisen geben?

 Es sind Reisen aus meiner Jugendzeit. Als man in Mexiko noch per Anhalter fahren konnte zum Beispiel. Eine Frau brauchte keine Angst zu haben, im nächsten Moment zerstückelt zu werden. Aber nochmal zur vorherigen Frage: Berlin hat eigentlich eine schwierige Geschichte. Wenn ich mein Haus betrete, erinnern mich Stolpersteine an das Schicksal der früheren Bewohner. Der Tod ist sehr präsent. Und ich denke, das war für mein Schreiben auch sehr wichtig. Der Versuch, diese Toten nicht zu vergessen, vor allem, wenn sie durch Gewalt gestorben sind und die offizielle Geschichtsschreibung sie am liebsten tilgen würde. Solche Leerstellen sichtbar zu machen, ist vermutlich schon immer ein essenzielles Anliegen meines Schreibens. Außerdem glaube ich, dass in meiner Wohnung ein Geist lebt. Ich habe Alan Pauls gefragt [der vorher in der Wohnung gewohnt hat, Anm. d. Red.], ob er ihn gesehen hat, und er hat nein gesagt. Dann habe ich Laura Muñoz, meine Ansprechpartnerin im Berliner Künstlerprogramm gefragt, und sie hat gesagt: „Über diese Wohnung habe ich das noch nicht gehört, aber Berlin ist voller Geister. Darum glaube ich dir sofort, wenn du sagst, dass es bei dir einen Geist gibt.“

 Wie hast du ihn bemerkt?

 Es ist ein guter Geist, und ich habe überhaupt keine Angst vor ihm. Als ich im November ankam, habe ich merkwürdige Dinge bemerkt, Schatten, Lichtphänomene. Und als ich meinen Totenaltar aufgebaut habe, dachte ich, wow, vielleicht hat mein Geist zum ersten Mal in seinem Leben einen Totenaltar und fühlt sich eingeladen. Wir hatten uns zwar noch nie schlecht verstanden, aber ab da verstanden wir uns noch besser. 

Sprechen wir von einem weiteren Geist, der für viele Jahre die Rezeption lateinamerikanischer Literatur in Deutschland beeinflusst hat: dem Magischen Realismus. In den USA, wo du an der Universität unterrichtest, scheint sein Spuk beendet …

 Stimmt, die Wahrnehmung lateinamerikanischer Literatur hat sich radikal gewandelt. Der Markt in den USA hat den Fokus von den großen Männern des „Booms“ und des Magischen Realismus auf die Autorinnen all der kritischen und oft, aber nicht ausschließlich dekolonialen Literatur verschoben. Das begann mit Bolaño. Nach ihm kamen all die weiblichen Stimmen. Ich denke, das ist gleichzeitig ein Grund zu feiern und vorsichtig zu sein. Was sind die Hintergründe dieser neuen Wahrnehmung und wie können wir uns auch ihr kritisch gegenüberstellen?

 Du meintest, viele dieser neuen Autorinnen würden eine dekoloniale Perspektive einnehmen. Wie würdest du diese beschreiben?

 Mich interessieren vor allem Frauen, die patriarchale Erzählweisen, die meiner Meinung nach immer mit einer kolonialistischen Erzählweise verstrickt sind, analysieren oder unterminieren. Sobald Elemente der patriarchalen Erzählweise verworfen werden, stehen andere strukturelle Beziehungen infrage. Nehmen wir zum Beispiel ein Buch, das mich persönlich sehr bewegt hat, Chicas muertas (auf Deutsch etwa: „Tote Mädchen“) von Selva Amada oder ihren Roman No es un río (auf Deutsch 2023: Kein Fluss), den ich für phänomenal halte. Ihr Fokus auf das Material oder auch die Art und Weise, wie sie das Thema der Geister behandelt, die jungen Frauen, die darin vorkommen, die Verbindung zur lokalen Sprechweise, die sie nicht abschwächt, die immer noch eine Form des Widerstands ist – darin steckt eine Analyse der Männlichkeit. Und das ist zum Beispiel Teil einer Trilogie über Männer, wie sie selbst sagt, aber auch über das Territorium. Das heißt, beides gehört zusammen. Oder denken wir an Mónica Ojeda und ihren Roman Mandíbula (auf Deutsch etwa: „Kiefer“), der ebenfalls großes Verständnis für den jugendlichen Körper zeigt, die Erfahrung der Pubertät, und das mit einer schriftstellerischen Wucht, muskulöses Schreiben, wie ich es nenne. Wirklich unglaublich.

 Perspektivwechsel, Infragestellung von Beziehungen und eingefahrenen Mustern – das ist auch ein Ziel des FestivalsBarrio|Bairro Berlin“: Anstatt von einer Latinocommunity in der deutschen Hauptstadt zu sprechen, behaupten wir, Berlin sei ein Viertel einer lateinamerikanischen Stadt, und drehen die Hierarchie zwischen kultureller Minderheit und Mehrheit um.

 Ich finde diese Idee toll und glaube, es stimmt. Über die USA könnte ich das nicht behaupten, obwohl Houston eine der vielfältigsten Städte des Landes ist und alle dort Spanisch sprechen. Ich habe eine Tante, die seit fünfzig Jahren dort lebt, eine offizielle Arbeit hatte und nie Englisch gelernt hat. Aber die Stadt ist so gebaut, dass man immer ein Auto braucht, es gibt keine Gehsteige. Und ohne sidewalks, wenn man nicht zu Fuß gehen kann, gibt es kein Viertel. Genau das macht es möglich, Berlin als lateinamerikanische colonia zu bezeichnen: im Sinne eines Stadtviertels, aber auch im Sinne einer rückwirkenden Dekolonisation. Oder zumindest habe ich selbst hier eine sehr aktive Community erlebt. 

Dank der Idee vom Stadtviertel können wir über Lateinamerika außerhalb von Lateinamerika nachdenken, das heißt eine Perspektive außerhalb der zeitlichen und linearen Logik einnehmen, wie der Latinofuturismus es vorschlägt. Was hältst du von diesem Konzept?

 Ich leite ein Programm für Kreatives Schreiben auf Spanisch an der Universität Houston. Einige meiner Studierenden haben Texte innerhalb der verschiedenen Futurismen geschrieben, Science Fiction, Speculative Fiction, verwoben mit den verschiedenen Feminismen, nicht normativen Körpern. Die Diskussionen zu diesem Thema halte ich für sehr anregend. Vor Kurzem wurde ich um einen Beitrag für ein Projekt über Manifeste für eine mögliche Zukunft gebeten, das von Christina Sharpe organisiert wurde. Ich dachte mir, wir arbeiten schon lange an einer kritischen Theorie zum Futurismus und seinen verschiedenen Ausprägungen, vor allem in Bezug auf patriarchale Aspekte von Zukunftsszenarien, die in der Regel apokalyptisch sind und überwiegend maskuline Anschauungen aufgreifen. Also begann ich, statt über die Zukunft über den Subjunktiv [würde im Deutschen unter diesen Bedingungen dem Konjunktiv entsprechen, Anm. d. Red.] zu schreiben, was ich für einen kritischen Ausweg aus diesen Zukunftserzählungen hielt. Nun komme ich gerade aus Berkeley, Kalifornien, zurück und habe festgestellt, dass inzwischen alle über den Subjunktiv schreiben und ich keine Ahnung hatte. Aber es bestätigt, dass in der Subjunktiv-Prosa ein kritisches Potenzial steckt, ein Ausweg aus dem futuristischen Schubladendenken. 

Wenn wir über Zeitlichkeit nachdenken, begegnen wir wieder dem Geist in deiner Wohnung, da der Glaube an Geister oder die Gegenwart der Toten auch aus der üblichen Chronologie ausbricht. Wir können uns mit der Vergangenheit und vielleicht auch mit der Zukunft verbinden. Vielleicht könnten wir sagen, wir sind die Geister der Zukunft.

Was für ein schöner Gedanke! Wir sind die möglichen, die potenziellen Geister im Subjunktiv. Jedenfalls beschwören wir sie. Beim Schreiben im Subjunktiv hängt alles, was danach passiert, von dem ab, der es liest und weiterspinnt. Und wer an diesem Gespräch teilhaben will. Wichtig am Subjunktiv scheint mir der Umweg. Wenn wir an die Zukunft denken, gibt es nur eine Richtung, was zum Schubladendenken führt. Zur Verknöcherung all der Möglichkeiten, die der aktuelle Kapitalismus für sich ausgenutzt hat. Ich glaube, der Subjunktiv ist ein Umweg, der die Vorstellungskraft entfacht und mehr Gemeinschaft zulässt. Im Subjunktiv mangelt es immer an Gewissheit. Diese Ansammlung von Potenzialen finde ich sehr wichtig. Er interessiert mich sowohl grammatikalisch als auch politisch als auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen Leben und Literatur.

 Liebe Cristina, wir danken dir für das Gespräch.

 

 

 

 

 

 

 

Huaco Retrato
Gabriela Wiener
31.07.24

Auszug aus Huaco retrato, Barcelona : Literatura Random House, 2021

Übersetzung aus dem peruanischen Spanisch von Sarah Roos und Sandra Rudman

Das Seltsamste daran, allein hier in Paris zu sein, im Saal eines ethnografischen Museums, fast unter dem Eiffelturm, ist der Gedanke, dass all diese Figuren, die mir ähnlich sehen, dem kulturellen Erbe meines Landes von einem Mann entrissen wurden, dessen Nachnamen ich trage.

In der Vitrine verschmilzt mein Spiegelbild mit den Konturen dieser Figuren, die braune Haut haben, Augen wie kleine glänzende Wunden, bronzefarbene Nasen und Wangenknochen, die so glatt geschliffen wurden wie meine, bis sie eine einzige Komposition bildeten, hieratisch, naturalistisch. Ein Ururgroßvater ist nur ein Relikt im Leben eines Menschen, nicht aber, wenn dieser stolze viertausend präkolumbische Stücke nach Europa verschleppt hat. Und sein größter Verdienst darin besteht, Machu Picchu zwar nicht entdeckt zu haben, aber nah dran gewesen zu sein.

Das Musée du Quai Branly befindet sich im 7. Arrondissement, im Zentrum des gleichnamigen Docks, und ist eines jener europäischen Museen, die große Sammlungen nicht westlicher Kunst aus Amerika, Asien, Afrika und Ozeanien beherbergen. Mit anderen Worten: Es sind sehr schöne Museen, die auf sehr hässlichen Dingen errichtet worden sind. Als ob sich jemand gedacht hätte, das Bemalen der Decken mit australischer Aborigines-Kunst und das Aufstellen von einem Haufen Palmen in den Gängen könnte uns ein bisschen das Gefühl von Zuhause vermitteln, um zu vergessen, dass alles hier vor Ort sich eigentlich Tausende von Kilometern weiter weg befinden sollte. Einschließlich mir.

Ich habe eine Dienstreise zum Anlass genommen, um endlich die Sammlung von Charles Wiener kennenzulernen. Jedes Mal, wenn ich solche Orte betrete, muss ich dem Drang widerstehen, alles als mein Eigentum zu beanspruchen und es im Namen des peruanischen Staates zurückzufordern. Ein Gefühl, das sich im Raum, der meinen Nachnamen trägt und gefüllt ist mit anthropomorphen und zoomorphen Keramikfiguren aus unterschiedlichen, mehr als tausend Jahre alten vorkolonialen Kulturen, noch verstärkt. Ich versuche, einen Hinweis für einen Rundgang zu finden, etwas, was die Stücke zeitlich einordnet, doch sie sind unzusammenhängend und isoliert ausgestellt und nur mit vagen oder allgemeinen Beschriftungen versehen. Ich mache mehrere Fotos von der Wand mit der Aufschrift „Mission de M. Wiener“, wie damals, als ich nach Deutschland reiste und mit zweifelhaftem Wohlgefallen überall meinen Nachnamen sah. Wiener ist einer dieser Nachnamen, die sich von Orten ableiten, wie Epstein, Aurbach oder Guinzberg. Einige jüdische Gemeinden haben die Namen ihrer Städte und Dörfer aus sentimentalen Gründen übernommen. Wiener ist eine Einwohnerbezeichnung, auf Deutsch bedeutet der Name „aus Wien“. Wie die Würstchen. Ich brauche ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass das M. für Monsieur steht.

Auch wenn seine wissenschaftliche Mission die des typischen Entdeckers des 19. Jahrhunderts war, scherze ich oft beim Abendessen mit Freunden und erzähle, dass mein Ururgroßvater ein huaquero von internationalem Ansehen war. Als huaqueros bezeichne ich, ohne Beschönigungen, die Plünderer archäologischer Stätten, die bis heute Kultur- und Kunstgegenstände entwenden und damit Geschäfte machen. Es kann sich dabei um sehr intellektuelle Herren oder um Söldner handeln, und sie können die tausendjährigen Schätze in europäische Museen oder die Wohnzimmer ihrer kreolischen Häuser in Lima bringen. Das Wort huaquero stammt aus dem Quechua, huaca oder wak'a heißen in den Anden heilige Orte, die heute meist archäologische Stätten oder einfach Ruinen sind. In ihren Katakomben ließen die kommunalen Obrigkeiten sich mit ihren Grabbeigaben bestatten. Die huaqueros dringen auf der Suche nach Gräbern oder wertvollen Gegenständen systematisch in diese Gelände ein und hinterlassen sie aufgrund ihres unprofessionellen Vorgehens oft wie Müllhalden. Das Problem besteht darin, dass verlässliche Untersuchungen im Nachhinein somit unmöglich und keinerlei Spuren von Identität oder kulturellem Gedächtnis zur Rekonstruktion der Vergangenheit nachweisbar sind. Huaquear ist also eine Form der Gewalt: Es verwandelt Fragmente der Geschichte in Privateigentum, in Requisiten und schmückendes Beiwerk eines Egos. Die huaqueros werden auch von Hollywood verfilmt, ebenso wie Gemäldediebe. Wie Lausbubenstreiche, bei denen der Glamour nicht ausbleibt. Ohne es weit zu bringen, ist Wiener nicht nur als Gelehrter, sondern auch als „Autor“ dieser Werksammlung in die Geschichte eingegangen, indem er unter dem Deckmantel der Wissenschaft und mit dem Geld einer imperialistischen Regierung die Namen der eigentlichen und anonymen Autoren auslöschte. Seinerzeit hieß das Verschieben von etwas Erde Archäologie.

 

Ich laufe durch die Gänge der Sammlung Wiener, und von den Vitrinen voller huacos fällt mir eine auf, die leer ist. Die Beschriftung lautet: „Momie d'enfant“, Kindermumie, doch von ihr fehlt jede Spur. Irgendetwas an diesem leeren Kasten alarmiert mich. Dass es ein Grab ist. Dass es sich um das Grab eines nicht identifizierten Kindes handelt. Dass es leer ist. Dass es sich schließlich um ein offenes oder wiedergeöffnetes Grab handeln muss, das unendliche Male geschändet wurde und nun Teil einer Ausstellung ist, die die glorreiche Geschichte einer anderen unterdrückenden Zivilisation erzählt. Kann die Verweigerung des ewigen Schlafs eines Kindes diese Geschichte erzählen? Ich frage mich, ob sie die kleine Mumie weggebracht haben, um sie zu restaurieren, so wie ein Gemälde restauriert wird, und ob sie die Vitrine im Raum als Anspielung auf eine bestimmte Avantgarde-Kunst mit Absicht leer gelassen haben. Oder ob der Raum, in dem sie nicht vorhanden ist, eine ständige Anklage gegen ihr Verschwinden sein soll, wie bei dem Diebstahl eines Vermeers aus einem Museum in Boston, dessen Rahmen für immer leer an der Wand hängt, damit niemand ihn vergisst. Ich spekuliere über die Idee des Diebstahls, des Umzugs, der Repatriierung. Käme ich nicht aus einem Teil der Welt, in dem gewaltsames Verschwindenlassen gängige Praxis ist, in dem man ausgräbt, vor allem aber heimlich vergräbt, würde mir dieses unsichtbare Grab hinter der Glasscheibe vielleicht gar nichts sagen. Aber etwas in mir beharrt darauf, vielleicht weil dort steht, dass das verschollene Mumienkind von der Zentralküste Perus stammt, aus Chancay im Department Lima, aus der Stadt, in der ich geboren wurde. Meine Gedanken streifen zwischen kleinen imaginären Gräbern an der Erdoberfläche umher, ich stecke die Schaufel ins Loch der Unwirklichkeit und trage den Staub ab. Diesmal verschmilzt das Spiegelbild meines Inka-Profils mit nichts und wird für einige Sekunden zum einzigen, wenn auch geisterhaften, Inhalt der leeren Vitrine. Mein Schatten, eingefangen von der Glasscheibe, einbalsamiert und ausgestellt, ersetzt die Mumie, er hebt die Grenze zwischen Realität und Inszenierung auf, stellt sie wieder her und schlägt eine neue Szene zur Interpretation des Todes vor: mein Schatten, gewaschen und parfümiert, ausgeweidet und alterslos, wie eine mit Myrrhe gefüllte, durchscheinende piñata, nichts, was die wilden Wüstenhunde verschlingen und zerstören könnten.

 

Ein Museum ist kein Friedhof, auch wenn es sehr danach aussieht. Wieners Ausstellung erklärt nicht, ob das abwesende Kind rituell geopfert oder getötet wurde oder eines natürlichen Todes starb; und auch nicht, wann und wo. Fest steht nur, dass es sich bei diesem Ort weder um eine huaca noch um den Gipfel eines Vulkans handelt, auf dem man Göttern und Menschen übergeben wird, damit sie die Ernte segnen und dichter, gleichmäßiger Regen fällt wie in den Mythen, wie ein Wolkenbruch aus Milchzähnen und saftigen Granatapfelkernen, die den Kreislauf des Lebens bewässern. Hier halten sich die Mumien nicht so gut wie im Schnee.

Die Archäologen sagen, dass die Kinder, die auf den hohen Vulkanen im äußersten Süden gefunden wurden, in ihren eisigen Gräbern aussehen, als würden sie schlafen, und wer sie zum ersten Mal sieht, das Gefühl bekommt, sie könnten jeden Moment aus ihrem jahrhundertelangen Schlaf zurückkehren. Sie sind so gut erhalten, dass jeder, der sie sieht, denkt, sie könnten gleich anfangen zu reden. Und sie sind nie allein. Die Kinder von Llullaillaco wurden zusammen in den Anden begraben: La Niña del Rayo, das Mädchen des Blitzes, sieben Jahre; El Niño, der Junge, sechs Jahre; und la Doncella, die Jungfer, fünfzehn Jahre. Und zusammen wurden sie ausgegraben.

In einer gar nicht so fernen Vergangenheit wurden genau hier, in einer europäischen Hauptstadt, die Kinder ebenfalls im selben Teil des Friedhofs begraben, als wären sie alle Geschwister oder als hätte eine Seuche sie alle auf einmal geholt, und dort lebten sie dann in einer Art Mini-Geisterstadt innerhalb der großen Stadt der Toten, damit sie, wenn sie mitten in der Nacht aufwachten, miteinander spielen konnten. Immer wenn ich auf einem Friedhof bin, versuche ich, eine Runde durch den Kids-Bereich zu drehen. Zwischen Schaudern und Seufzern lese ich die Abschiedsformeln, die die Familien ihnen in ihren Mausoleen hinterlassen haben, und stelle mir dabei ihre zerbrechlichen Leben und ihren Tod vor, der meist durch unbedeutende Krankheiten verursacht wurde. Ich frage mich angesichts dieses nicht wiederauffindbaren Kindergrabs, ob der Schrecken, den wir heute beim Tod eines Kindes empfinden, von dieser uralten Zerbrechlichkeit herrührt und ob es nicht sein könnte, dass wir mit dem Opferbrauch auch die Normalität, sie zu verlieren, vergessen haben. Ich habe noch nie Gräber von Kindern, die in unserer Zeit gestorben sind, gesehen. Welche Person, die bei klarem Verstand ist, würde den Leichnam ihres Kindes auf einen Friedhof bringen. Dafür muss man schon verrückt sein. Wem würde es einfallen, ein Kind zu begraben, tot oder lebendig.

Dieses Kind hier ohne Grab oder dieses Grab hier ohne Kind hat hingegen nicht nur keine Geschwister oder Spielkameraden, sondern es ist auch noch verschollen. Wenn ich dort wäre, stelle ich mir jemanden vor, der ich sein könnte und dem Impuls erliegt, die Momie d'enfant in die Arme zu nehmen, Wieners geklautes Kleinkind, eingewickelt in einen von der Zeit zerfressenen Stoff mit Motiven von zweiköpfigen Schlangen und Meereswellen, um mit ihm in Richtung Docks zu rennen, das Museum hinter mir zu lassen, weiter Richtung Turm, ohne einen bestimmten Plan, nur um so weit wie möglich von dort fortzukommen, während ich ein paar Luftschüsse abfeuere.

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